„..die Dinge überraschen dadurch, dass sie noch etwas niedlicher sind als man sie sich vorsichtigerweise dachte. (...) Die Seen erscheinen als Flüsse, und immer halten die Züge, kaum dass sie in Bewegung gekommen sind.“ – „Was hab ich nicht Heimweh ausgestanden! Meist sah ich den Pfannenstiel in Blust und Amseln.“ (Gespräch zwischen Krannig und Stapfer im Zug von Paris nach Zürich)
In der Bibliothek meiner Mutter stand ein schmales Büchlein mit dem Titel „Pfannenstiel“ (1), verfasst von Albin Zollinger (1895–1941), einem fast nur noch Insidern bekannten Schweizer Schriftsteller der Generation von Meinrad Inglin und Kurt Guggenheim. Es handelt von zwei Schweizer Bildhauern, welche nach vielen Jahren aus Paris zurück in ihre Heimat kommen. Vielleicht hat Zollingers früher Tod zu seinem schnellen Vergessenwerden beigetragen, vielleicht auch das meteorhafte Licht seiner jüngeren Kollegen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt.
Bis zu meinem zehnten Lebensjahr wohnte ich selber am Fusse des Pfannenstiels. Damals war mir der langgezogene Hügelzug am rechten Zürichsee vor allem als Ort gefürchteter Gewitter bekannt, gegen welche die Rebbauern am Zürichsee ihre Hagelkanonen abschossen. Ich mag mich nicht erinnern, dass die Familie von Küsnacht aus je weiter als bis zur Kittenmühle gewandert ist – oder zur Forch, von wo man den Greifensee sah und die Forchbahn für die Rückfahrt nehmen durfte.
Doch die Urgewalt von Zollingers Roman entdeckte ich erst später als Gymnasiast in Basel. Seit jener Zeit trage ich die Erinnerung an jene Episode mit mir herum, als der Bildhauer Martin Stapfer mit Marie, der jungen Pariserin und Freundin seines Künstlerkollegs Krannig, die er heimlich liebt, von der Forch zum Pfannenstiel wandert.
Vor über vierzig Jahren habe ich mich mit meiner Familie wieder in Küsnacht niedergelassen; der Pfannenstiel ist zu unserem Hausberg geworden. Als ich vor ein paar Jahren nach Zollingers Buch suchte, stellte ich betrübt fest, dass es nach dem Tod meiner Mutter verloren gegangen sein musste und das Original längst vergriffen war. Dank meines Buchhändlers fand ich schliesslich bei Google einen Nachdruck (2). Fast sechzig Jahre später fesselte mich die Geschichte erneut, doch ich realisierte, dass auf den vielen Wanderungen meine Erinnerung an den Roman ein Eigenleben entwickelt und sich ziemlich vom Original entfernt hatte.
So entstand der Wunsch, den Pfannenstiel mit den Augen von Albin Zollinger neu zu entdecken, nicht auf der mir geläufigen Route durchs Küsnachter Tobel, sondern – wie damals Martin und Marie – von Zürich mit der Bahn zur Forch und von dort weiter zu Fuss.
Von der Forch zum Pfannenstiel: Heute und vor 80 Jahren
Das Bähnchen, mit dem sie fuhren, war ein Mittelding zwischen Tram und Bummelzug; es brachte Milchkannen vom Lande herein und städtische Menschen hinaus. (...) Die Pariserin blickte sich um; da sie Felsabstürze und Wasserfälle erwartet hatte, fiel die Überraschung genau so aus, wie Martin sie gewollt hatte (...) Es war kein Berg, es war unter den Himmel erhobenes Hügelland mit einer Asphaltstrasse mitten durch, mit Bauerndörfchen, kleinen Schindelkirchen, mit Schulhäusern und Wegweisern.
Noch immer beginnt die Reise auf die Forch am Stadelhoferplatz. Nur Farbe und Design der Forchbahn haben sich geändert, und ein Bummelzug ist sie auch nicht mehr. Das Bauerndörfchen Zumikon ist unterdessen zum Nobelort mutiert, aber die Schindelkirche hat die Transformation zum Goldküstendorf überlebt. Leider kann man sie von der Bahn aus nicht mehr sehen, denn seit 1976 taucht die Bahn in Waltikon in den Untergrund. Damals erhielt Zumikon die erste U-Bahnstation Schweiz, verlor aber gleichzeitig im alten Dorfzentrum sein romantisches Stationsgebäude mit Güterschuppen. Der moderne Dorfplatz wirkt noch heute irgendwie verlassen, als ob er seinem Bähnlein nachtrauern würde.
Wenn der Reisende dann vor der Station „Neue Forch“ wieder ans Licht kommt, ahnt er, was Martin und Marie damals im Hügelland empfunden haben müssen: Über den Einschnitt des Küsnachter Tobels hinweg geht der Blick durch die halbe Schweiz: Hinter dem Zürichsee die Albiskette, etwas weiter die Rigi und der Pilatus, die schneebedeckten Gipfel der Zentralschweiz und schliesslich – den Dunst durchdringend – das schwarze Dreieck der Eigernordwand.
Doch das Spektakel dauert nur wenige Sekunden, und schon wieder geht es zurück in die Moderne: Statt wie früher auf krummen Schienen am alten Bahndepot und am Gasthaus Krone vorbei durch den Weiler Forch zu rumpeln, fährt die Bahn jetzt zum etwas tiefer liegenden neuen Depot. Es ist halb in den Hügel hinein gebaut und wird gegen Süden, dem Tal zugewandt, durch eine riesige Fensterwand abgeschlossen. Hinter einem gläsernen Tor entdecke ich einen blauen Triebwagen aus der Anfangszeit der Forchbahn; mit ihm oder einem ähnlichen Wagen müssen Martin und Marie damals von Zürich auf die Forch gefahren sein.
Sie gingen, nachdem sie die Bahn verlassen hatten, in der Art von zwei Kindern auf den Tramschienen noch ein Stück weiter. Das Gebirge kam über den Rand hinauf, die Zeile von Telefonmasten, ein kleiner Weinberg, wölbte sich anscheinend in Seewasser hinab. (...) Das Pärchen bog rechterhand in einen Feldweg von der erstaunlichen Landstrasse ab, von der man nicht anders dachte, ein italienisches Küstenstädtchen läge an ihrem Ende. (...) „Das hier hinauf“, sprach Marie und hob den Arm über die Landschaft, „habe ich schon einmal gesehen. Es sind die Albanerberge. Ungefähr dort läge Tivoli.“ „Es ist aber Bäretswil!“ antwortete Martin bedeutungsvoll.
Mit dieser Beschreibung im Kopf würde heute der Wanderer, welcher an der Station Forch die Bahn verlässt, den richtigen Weg zum Pfannenstiel kaum noch finden. Die „erstaunliche Landstrasse“ – gemeint ist damit wohl die alte Strasse über die Passhöhe vom Tal des Zürichsees ins obere Glatttal – ist einer Schnellstrasse gewichen, welche umgeben ist von einem Knäuel aus Zufahrten, Brücken und Einfamilienhaussiedlungen. Die gelben Wegweiser helfen dem Suchenden durch das Labyrinth. Auf einem Garagevorplatz putzt ein Bewohner seinen abgestellten Wohnwagen, wie wenn er mir sagen möchte, dass man auch in der Agglomeration noch jene Sehnsucht nach der Ferne verspürt wie Albin Zollingers Protagonisten. Plötzlich ahnt man den damaligen Feldweg, rechterhand eine saftig grüne Wiese, auf der Kühe weiden – ohne Glocken, wie in einem Stummfilm, was wohl den zugezogenen Städtern geschuldet ist. Allerdings: Einen sich zum See wölbenden Rebberg habe ich hier noch nie entdeckt; vielleicht hat Zollingers Fantasie ein paar Blüten zuviel getrieben.
„Du siehst da zwischen den beiden Seen Uster, wo vor genau hundert Jahren die erste Fabrik des Kantons verbrannte, ein Novum und Symbol des Weltunterganges, gegen das sich eines nebligen Novembertags der Grimm der Handweber wandte. Sie irrten. Die Industrie hat ihren Kindern all die Dörfer erbaut, von denen du das Land gesprenkelt siehst.“
Hier spricht Albin Zollinger, der Arbeitersohn, welcher in seinem Leben verschiedene Krisen erlebt hat, so den Landesstreik von 1918 und die Depression der Dreissigerjahre.
Im Aufstieg durch den Wald teilt sich der Weg. Ich wähle – nur schon des Namens wegen – den rechten, der mich zum Chüelenmorgen führt (so sprachlich ungelenk steht’s auf Karte und Wegweiser) und weiter hinauf direkt zur Guldener Höchi, den stattlichen Hof „Vorder Guldenen“ links liegenlassend. Nahe am höchsten Punkt des Pfannenstiels (853m) biege ich rechts ab ‚zum letzten Tor’...
Marie und Martin traten durchs letzte Tor auf eine Wiesenhalde hinaus, die in Stufungen sanft nach der Tiefe abfiel; sie stapften einen Pfad aus Grasbüscheln und Wurzelgeflecht zu der Alp hinunter, auf welcher das Berghaus wochentags einsam stand. (...) Die Alpen waren als eine schaumige Brandung an den Himmel hinaufgewachsen, ihre Riesen standen im neuen Schnee mit geisterhaft fernen Klippen, mit Schlüften von Zwielicht, der Hermelin langer Hänge zerfloss in dem kräusligen Waldrost, dem Teppich der wärmeren Tiefen.
Tatsächlich, an der Erhabenheit dieses „letzten Tores“ hat sich in den letzten 80 Jahren nichts geändert. Nur die Dörfer im oberen Glatttal sind grösser und ausgefranster geworden, und die Oberlandautobahn durchschneidet die Landschaft gegen Rüti zu. Aber im morgendlichen Gegenlicht spielt das alles keine Rolle: Man sieht noch immer die grossen, unberührten Konturen unserer Vorfahren, vom Schnebelhorn im Osten über den Säntis, den Speer, die Glarner Alpen bis hinüber zur Innerschweiz. Doch etwas ist hier neu: In einer Waldecke oberhalb des Gasthauses Hochwacht steht, 33 Meter hoch, der alte Bachtelturm (3). Dieser musste dort 1985 einem grösseren Turm weichen. Der alte wurde sorgfältig, Stück um Stück, demontiert, ein paar Jahre eingelagert und 1992 auf dem Pfannenstiel wieder aufgebaut. Über 125 Jahre alt ist die Eisenkonstruktion. Ich steige die 174 Stufen hinauf, sehe hinüber zum Bachtel, des Turms alter Heimat, und folge dann mit meinen Augen der grossartigen Landschaft, wie sie Martin seiner Marie erklärt:
„Da überall hinaus“, sagte Martin, „sind die farbigen Landsknechtheere gezogen: nach der Lombardei, nach Burgund – Ströme von Wanderameisen, die einen Weinberg von Lanzen über die Pässe trugen. Die Burg links ist Rapperswil, ein Städtchen, welches zwei Heckenrosen in seinem Wappen hat, die Insel davor ist die Ufenau (...) Hutten liegt dort begraben, die Unrast des Deutschland von Luther; rechts hinauf gingen die Pilgerzüge nach der Waldstatt Einsiedeln. (...) Du siehst auch in dem Schilfland am Obersee einen dörflichen Dom gespiegelt; das ist Lachen in der Nähe von Tuggen, wo der irische Mönch Columban die Christianisierung Germaniens begann.“ (...)
Indessen begann die leise Verschattung des Tages auf sie zu drücken. (...) Sei traten noch auf den eigentlichen Aussichtspunkt, die Okenshöhe hinaus, eine Lichtung von Eichgebüsch, in welchem der Tisch eines Alpenzeigers mit gewaltigen und blumigen Namen der Bergriesen – Ruchenglärnisch, Grosse Windgälle, Finsteraarhorn – als Visierplatte vor dem Panorama stand. Sie betrachteten auch den Findling aus rotem Ackerstein, welchen die Gletscher der Eiszeit vom Tödi heruntergetragen und an dem erhobenen Orte niedergelegt hatten.
Hier auf der Okenshöhe, wo Findling und Panoramatisch noch immer Sonne und Regen trotzen, trennen sich unsere Wege. Martin findet auf dem Rückweg für die ermüdete Marie Unterkunft in der Kittenmühle an der Grenze zwischen Erlenbach und Herrliberg und wandert dann allein durch die Nacht zum See hinunter. Kurz nach diesem Ausflug wird Marie beide Künstler, Krannig und Stapfer, verlassen, nach Paris zurückkehren und dort einen anderen heiraten. Martin ersteht sich eine Brandruine am Pfannenstiel, baut diese zur Wohnhütte aus und wird zum regelrechten Sonderling. – Zollingers Geschichte endet mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der Schweizer Generalmobilmachung.
Ich aber gehe weiter südwärts zum Buchholz und von dort auf einem schmalen Weg in der Falllinie hinunter Richtung Uerikon und See. Als ich oberhalb des Heiribergs aus dem Wald trete, finde ich auf einer Bank eine Plastikkiste, darin ein paar Bücher und eine Einladung einer Familie aus der Nachbarschaft, man solle sich ein Buch auswählen, hier auf der Bank mit der Lektüre beginnen und dieses, falls es Gefallen finde, mitnehmen, für Nachschub sei gesorgt.
Ich kann nicht widerstehen und sehe mich – welcher Kulturschock –, kaum habe ich die ersten Zeilen gelesen, ins provinzielle Irland der Sechzigerjahre versetzt, wo sich eine früh zur Witwe gewordene Frau mit ihren vier Kindern ein neues Leben erkämpfen muss (4).
Ich stecke das Buch in meinen Rucksack. Als auf der Fahrt von Uetikon nach Küsnacht mein Blick über die Landschaft schweift, weiss ich für einen kurzen Moment nicht mehr, ob ich auf die irische See oder den Zürichsee schaue. Da höre ich neben mir Albin Zollinger sagen: „Die Seen erscheinen als Flüsse ...“, aber sie haben die Kraft, im Schweizer die Sehnsucht nach der Unendlichkeit des Meeres zu wecken.
(1) Albin Zollinger: Pfannenstiel. Die Geschichte eines Bildhauers. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch,1990. ISBN 3-518-40280-3
(2) dto. Nachdruck, edition manila, 2012. ISBN 978-1479204038
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/Aussichtsturm_Pfannenstiel
(4) Colm Tóibín: Nora Webster. München: dtv, 2018.