Vor vielleicht 15 Jahren fuhren wir einmal im Speisewagen von Bern zum Flughafen von Genf. In Lausanne stieg ein schnauzbärtiger Herr ein, der fragte, ob er sich an unseren Tisch setzen dürfe. Wir bejahten und setzten unsere Konversation in griechischer Sprache fort. Meine Frau erkundigte sich zum Beispiel nach den französischsprachigen Zeitungen, die der Herr las. Dieser mischte sich ins Gespräch ein und sagte auf Griechisch: „Nur dass es keine Missverständnisse gibt: Ich verstehe alles, was Sie sagen.“ Es handelte sich um den damaligen Waadtländer Nationalrat Josef Zisyadis, ein in der Schweiz eingebürgerter Konstantinopler Grieche. Wir unterhielten uns dann bis Genf sehr angenehm zu dritt.
Man hört heuter mehr griechisch in Europa
Es war bis zum Ausbruch der Krise höchst selten, dass in der Schweiz jemand unsere Unterhaltung verstand. Wir konnten auch Vertrauliches besprechen und am Telefon schwatzen, ohne dass es jemand verstand. Obige Begebenheit ist eine grosse Ausnahme.
Das ist Vergangenheit. Wenn ich heute im Zug von Zürich nach Bern das Telefon zücke, muss ich aufpassen was ich sage – auch wenn ich mich der Sprache Homers bediene. Oft habe ich in letzter Zeit ein Gespräch belauscht, das nicht für meine Ohren bestimmt war: Sei es, dass intime Themen breitgetreten wurden, sei es, dass die Wortwahl nicht zitierfähig war – diese Begebenheiten symbolisieren, dass nun in der Schweiz auch Griechisch gesprochen wird. Auch wenn wir en famille auf der Strasse gehen und uns unterhalten, müssen wir mehr und mehr aufpassen, was wir sagen.
Griechenland als Auswanderungsland für Albaner
Als ich das erste Mal nach Griechenland kam, rollte gerade die erste Einwanderungswelle an. Aus Albanien. Zuerst gab es Kriminalität, illegale Beschäftigung und andere Begleiterscheinungen. Im Jahre 1996 gingen wir das erste Mal in die Pindosberge: nach Papingo. Auf einer Wanderung sahen wir verschupfte und verlumpt angezogene Gestalten, die angstvoll grüssten, – Albaner, die gerade die seit einigen Jahren grüne Grenze überschritten hatten. Es war ein kalter April. Der Regen war nie weit und der Schnee war liegengeblieben.
Im Jahre 2001 waren wir wieder dort. Ein goldener Herbst. Wir konnten uns an den farbigen Bäumen nicht sattsehen. Jeden Abend sassen wir noch im Oktober lange draussen. In einer Taverne in Papingo lernten wir die Wirtin etwas näher kennen – sie kam aus Albanien und hatte den Wirt geheiratet – ausserordentlich tüchtig, nett und nie um ein gutes Wort verlegen. Wir hörten auch, dass in diesen Wochen die Primarschule in Papingo wiedereröffnet wurde. Der Grund? Die vielen Albanerkinder im Dorf hatten dazu geführt, dass die Mindestzahl zur Führung einer Dorfschule nun wieder erreicht wurde.
Die Albaner sorgten in Griechenland also in den Neunzigerjahren für den dringend nötigen Arbeitskräftenachschub, denn die Geburtenrate ist eine der niedrigsten in Europa, obwohl der gesellschaftliche Druck auf junge Paare, für Nachwuchs zu sorgen, wie ich aus eigener Erfahrung weiss, riesig ist. Und mit der Zeit begannen diese Albaner, auch in die Rentenkassen einzuzahlen. Das führte dazu, dass das rein umlagefinanzierte Rentensystem, das eigentlich schon vor 20 Jahren hätte Bankrott gehen sollen, immer weiterlief. Ich wartete darauf, dass es nicht mehr finanzierbar war, aber der Moment kam nicht. Bis zur Schuldenkrise.
Dann kam die Krise
Griechenland wurde also in den neunziger Jahren ein Einwandererland. Das führte einerseits dazu, dass die Renten vorerst gesichert waren. Es hatte aber auch sehr negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Das reichliche Vorhandensein von günstigen Arbeitskräften verscheuchte jeden Gedanken nach Investitionen und Produktivitätssteigerungen. Die Wirtschaft wurde nicht modernisiert. Noch konnte man abwerten, noch konnte man die Leistungsbilanz so ausgleichen. In der Landwirtschaft wurde nichts mechanisiert. Man verliess sich auf die Albaner, die halfen. Auf dem Bau ebenso. Und natürlich hatte jede griechische Familie eine albanische Putzfrau – auch wir. Dann kam die Krise.
Die Zahlen: In fünf Jahren wanderten praktisch eine halbe Million Menschen aus Griechenland aus. In den Krisenjahren 2008–2013 kehrten 427’000 Griechinnen und Griechen ihrem Land den Rücken zu. Der Zentralbankchef Ioannis Stournaras, der diese katastrophalen Zahlen erhoben hatte, äusserte die Hoffnung, dass diese Menschen dereinst gut ausgebildet und um eine Erfahrung reicher zurückkehren würden und mit ihren neu erworbenen Fähigkeiten das Wachstum stimulieren würden.
Die Auswanderer kommen nicht zurück
Er dürfte sich täuschen. Oft höre ich von Griechen die Aussage wie: „Wir sind nur für einige Jahre hier, aber diese Jahre ziehen sich“, oder: „Wir sind zum Geldverdienen gekommen, dann aber geblieben.“ Das Muster gleicht sich: Kommen Einzelpersonen, dann gründen diese nach einigen Jahre eine Familie, sind dadurch und durch die Jobs an die neue Umgebung gebunden und gehen allenfalls teilweise zurück. Kommen Familien, dann sind es neben den Jobs die Kinder, die das Paar an die neue Umgebung binden. Diese durchlaufen ein anderes Bildungssystem und die griechischen Schulen im Ausland taugen kaum dazu, die Kinder auf muttersprachlichem Niveau an die Sprache und Kultur von Griechenland heranzuführen.
Das war an sich schon bei der ersten Einwanderungswelle in den Sechzigerjahren so. Was sich geändert hat, ist die Tatsache, dass viel mehr Griechen in die Schweiz kommen – und es handelt sich meist um sehr gut ausgebildete Menschen und weniger um Arbeiter wie damals.
Die Krise in Griechenland vertreibt nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sie verhindert auch ihre Rückkehr. Die Jobaussichten sind schlecht, die Löhne tief, und traditionell werden die Jobs nicht an die Wägsten und Besten vergeben, sondern an denjenigen, der die besten Beziehungen hat. Die fachliche Kompetenz spielt praktisch keine Rolle. Allenfalls wird bürokratisch nach Vorhandensein von Diplomen entschieden. Daran hat auch die Krise nichts geändert. Wer weg ist, ist weg und höchstens noch als Devisenbringer und in Sonntagsreden willkommen.
Sterbeüberschuss
Es kommt aber noch schlimmer: Der Sterbeüberschuss steigt und steigt. Während er 2014 bei 20’000 Personen lag, waren 2017 bereits Ende November 113’000 Sterbeurkunden ausgestellt worden, während nur 80’000 Geburten registriert wurden. Das führt dazu, dass die Bevölkerung in Hellas rasant schrumpft: Bis 2030 sollen es noch 9,9 Millionen sein, während es 2050 nur noch 8,9 Millionen Griechinnen und Griechen geben dürfte.
Na und? Worin besteht die Dramatik dieser Zahlen? In den Neunzigerjahren und bis zu einem gewissen Grad auch in den Nullerjahren war Griechenland ein Einwanderungsland. Die Albaner hielten die Wirtschaft am Laufen und stützten die Sozialsysteme. Die Stütze ist weg. Die Dauerkrise ist da und damit das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit. Oft bleibt den jungen Griechinnen und Griechen nur, ihr Glück in der Fremde zu suchen. So wie ihre Grossväter und Grossmütter. Und Familiengründungen sind oft nicht mehr finanzierbar. Man kann damit rechnen, dass die für die Betroffenen und für den Binnenkonsum katastrophalen Lohnkürzungen irgendwann aufhören, aber aus der Dynamik der obigen Zahlen wird klar, dass die Rentenkürzungen, von denen für das nächste Jahr wieder eine Serie angekündigt wurde, nicht so schnell aufhören.
Und was ist mit den Albanern? Bisher sind sie noch in Griechenland. Sie hoffen aber darauf, dass sie in Griechenland eingebürgert werden. Dann können sie in ein anderes EU-Land auswandern und dort arbeiten.