„Den Beamten verschlägt’s die Sprache“, so lautet der Titel eines kleinen Artikels. (1) Eine unscheinbare Notiz zur Sprache der eidgenössischen Verwaltung. Sie befragt im Moment rund 38’000 Bundesangestellte zu ihren Sprachkompetenzen – dies im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen GER. Wörtlich: „Es handelt sich [dabei] um eine Anpassung des GER-Niveaus, um den in der Sprachverordnung (SPV) gewählten Begriff ‚passive Kenntnisse‘ operationalisierbar zu machen.“
Nebulöse Worthülsen aus Bundesbern
Passive Kenntnisse operationalisierbar machen: Solche Sätze zeugten von einer beispiellosen Sprach-Inkompetenz, urteilt ein Experte und fügt hinzu: Die Unterlagen seien in einer Fachsprache formuliert, die vielleicht für Linguisten geeignet sei, nicht aber für einen Fragebogen.
Ein zweites Beispiel aus der Bundesverwaltung: „Dass es längerfristig, primär aus Gründen der demografischen Alterung, einen finanziellen Mehrbedarf gibt, hat der Bundesrat nicht in Abrede gestellt.“ (2) Knapp und konkret heisst das wohl: „Die Leute werden immer älter, also kostet die AHV mehr; das bestreitet der Bundesrat nicht.“
Hochtrabender Sprachschwulst
„Für zünftige Sprachbeamte ist der übersetzte Satz wohl zu simpel, zu verständlich, zu wenig beeindruckend“, meint der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler und analysiert: „Darum beginnen sie gleich mit einem Nebensatz (‚dass es längerfristig ...‘), dann verschachteln sie, so gut es geht (‚dass es längerfristig, primär aus Gründen ...‘), gleichzeitig verwischiwaschen sie: ‚längerfristig‘. Was heisst das? Ich unterscheide: kurz-, mittel-, langfristig. Ist ‚längerfristig‘ länger als langfristig? Wollen sie damit sagen: Es dauert noch unendlich lange? Also keine Angst? Trotz der ‚primären Gründe der demografischen Alterung‘?“
„Merkwürdig“, so Hasler, „dieser Plural, wo unsereins denkt: Erst kommt der primäre Grund, dann der sekundäre ... Doch bei einem sprachlichen Meisterstück wie ‚demografische Alterung‘ gilt wohl eine andere Logik: Altert nun bereits die Demografie? Jedenfalls droht ein ‚finanzieller Mehrbedarf'.“ (3)
Deutsch wird zum „echten Problem“
So geht es dahin, in gröbstem Sperrholzdeutsch und mit garstigen Nominalkonstruktionen, und wenn man sich durch solche Texte gequält hat, fühlt man sich, als hätte man eine Tüte Mehl gegessen. Doch so läuft helvetische Offizialschreibe – als pseudowissenschaftliches Sprachgewölk, das nur einen Zweck erreicht: Statt das Problem zur Sprache und auf den Punkt zu bringen, palavert sie die Sache mit geschraubten Floskeln ins Land hinaus.
Deutsch sei in der Verwaltung „ein echtes Problem“, verkündete Justizministerin Simonetta Sommaruga vor einiger Zeit. Darum bot sie über hundert Bundesbeamte zu einer Schreibwerkstatt auf. Hier sollten sie für die bundesrätlichen Sprechnotizen eine Sprache lernen, die auch ein Durchschnittsbürger verstehe. (4) Viele Verwaltungsmitarbeiter texteten unverständlich, so Sommaruga.
Gutes Deutsch ist verständliches Deutsch
Der hochtrabende Wortschwulst kursiert überall. In der Ökonomie überschlagen sich die Phrasen: „einer beschleunigten Dekomposition der Wertschöpfungskette entgegenarbeiten“ usw. Die Juristensprache steht dem in nichts nach: „vorbehaltlich einer noch abzuschliessenden tarifvertraglichen Regelung bezüglich Ergänzung weiterer multimedialer Verwertungsrechte der allgemeinen Bedingung zum Vertrag der ...“ Und erst der Pädagogenslang: „Leider müssen wir Ihnen, liebe Eltern, mitteilen, dass bei wiederholtem Nichtkooperieren bezüglich Kindergartenregeln gewisse Umsetzungen realisiert werden, die im Einzelfall zur Anwendung kommen.“
„Wörter waschen!“, heisst Bert Brechts kluger Rat – oder eben die Sprache reinigen. Denn „gutes Deutsch ist verständliches Deutsch“, weiss Wolf Schneider, deutscher Sprach-Profi und Autor. Mager schreiben sei das Prinzip anerkannter Journalisten. Doch dahinter stecke Schwerarbeit. Einer müsse sich eben plagen, meint Schneider, entweder der Schreiber oder die Leserin. Unter den Journalisten geniesst er einen ähnlichen Ruf wie Günter Netzer bei den Fussballfans. Doch sein Credo bleibt in Bundesbern ungehört.
Mit dem Ausweis der Unverständlichkeit
Vielleicht liegt die Ursache des Problems im tertiären Bildungssystem verortet. Akademisch belohnt werde, so die Klage, wer in seinen Texten monströse Konstruktionen und viel Fachjargon verwende. Der sprachsensible Wolf Schneider spricht darum vom „Nachweis der Wissenschaftlichkeit durch den Ausweis der Unverständlichkeit“. Hat er so Unrecht?
Wie wohltuend tönt es dagegen aus der ETH Zürich. Das Departement Umweltsystemwissenschaften fordert von einer wissenschaftlichen Arbeit, dass sie „kurz und klar“ sei, und fügt bei: Stilistisch „zeichnet [sie] sich durch eine leicht verständliche Sprache aus, d. h. kurze Hauptsätze, höchstens Nebensätze ersten Grades, keine Schachtelsätze. Der Text lässt sich leicht laut lesen. Man versteht ihn beim Anhören sofort.“
Ein Satz von programmatischer Prägnanz. Schriftsteller mit ihrer kreativen Fantasie sind da stilistisch allerdings freier. Denken wir nur an Thomas Mann.
Die Volksschule ist gefordert – auch das Gymnasium
Die Sprache zeugt Welt; sie wird ihrerseits über Sprache fassbar. Wahrnehmen und Denken sind mit Sprache verbunden. Doch in den Primarschulen fristet Deutsch ein eher marginales Dasein, konkurrenziert von Früh-Englisch und Mittelfrüh-Französisch. Dazu werden kaum mehr Texte geschrieben, geschweige denn minutiös analysiert, individuell besprochen und verbessert. An die Stelle zusammenhängender Antworten tritt oft das Zustöpseln von Lückentexten; Deutschprüfungen mutieren zu Ankreuztests. Die Zeit zum Üben fehlt. So verkümmern kohärentes, exaktes Schreiben, inhaltlicher Reichtum und sprachliche Differenzierung.
Die Schule sollte hier gegen den Stachel löcken. Wer in einer globalisierten und englisch dominierten Welt sprachlich mithalten will, hat es leichter, wenn er zuvor auch in der Muttersprache Deutsch den Meister gemacht und kohärent formulieren gelernt hat. Deutsch ist und bleibt der zentrale Schlüssel zu vielen Fächern, Sprache der Königsweg zur Kultur.
Junge Menschen zu einer präzisen Sprache führen
Jeder Gedanke hat einen Körper, die Sprache. Ihr ist Sorge zu tragen; sie ist zu trainieren – wie ein Instrument oder eine Sportdisziplin. Konsequent und intensiv. Das ist elementare Pflicht der Schule und eine ihrer anspruchsvollsten Aufgaben. Kinder und Jugendliche zu einer klaren und präzisen Sprache zu führen, diese Aufgabe wird heute angesichts der fragmentierten Lebenswelt nicht leichter. Im Gegenteil. Doch sie bleibt als Auftrag.
Kein „Neusprech“ wie in Orwells „1984“
Denn dort, wo Sprache verödet, veröden Wahrnehmung und Denken. Das will ja auch der „Big Brother“ in George Orwells Roman „1984“. Der Sprachwissenschaftler Syme bastelt am Wörterbuch des „Neusprech“. Zur Hauptfigur des Romans, Winston Smith, sagt Syme: „Siehst du denn nicht, dass Neusprech kein anderes Ziel hat, als die die Reichweite der Gedanken zu verkürzen?“
Diese Gefahr ist heute evident. Darum muss die Schule sprachliche Grenzen öffnen und weiten. Das ist ihre ureigene pädagogische Aufgabe. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Ludwig Wittgenstein). Die sprachliche Welt darf kein Gefängnis sein. Denn „ohne Sprache bin ich wie eingesperrt“, singt Papageno in Mozarts aufklärerischer „Zauberflöte“.
(1) Eva Novak: Den Beamten verschlägt’s die Sprache. In: Luzerner Zeitung, 18.02.2018, S. 5.
(2) Ludwig Hasler: Schreiben ist geschäftiger Müssiggang. Vortrag PH Zug, 24.05.2007. Msc. unpubl.
(3) Ludwig Hasler: Des Pudels Fell. Neue Verführung zum Denken. Frauenfeld: Verlag Huber, 2010, S.198.
(4) Markus Häfliger: Besser Texten mit Simonetta Sommaruga. In: NZZ online, 24.07.2012.