Ich lese in den Zeitungen öfters Leserbriefe, weil man sich da immer wieder wundern kann, was in den vielgescholtenen Mainstream-Medien, die angeblich nur Einheitsbrei anbieten, so alles an Meinungsvielfalt zum Ausdruck kommt. Unlängst schrieb ein Leser in der «Zeit» im Zusammenhang mit dem millionenfach konsumierten Anklage-Video des deutschen Wutbloggers Rezo: Dem Publikum werde dauernd eingeredet: «Macht euch bloss keine Sorgen! Alles ist halb so schlimm und die Politik kümmert sich schon darum, dass nichts schiefläuft.» Doch genau das Gegenteil sei der Fall. «Es läuft so gut wie alles schief und niemand kümmert sich um das Gemeinwohl.»
«Was genau war früher besser?»
Einverstanden, es gibt zu diesen medialen Gesängen der pauschal Empörten und Frustrierten auch viele Gegenstimmen, die mit ebenso viel Verve dem lärmigen Narrativ vom Jammertal der heutigen Welt und ihren so gut wie unaufhaltsamen Katastrophen auch andere, erfreulichere Perspektiven entgegenhalten. Dazu zählt etwa das Büchlein des unlängst im hohen Alter verstorbenen französischen Soziologen Michel Serres mit dem zum Nachdenken provozierenden Titel «Was genau war früher besser?»
Der Autor, der seine Schrift als «optimistischen Wutanfall» bezeichnet, erinnert an die erst ein paar Jahrzehnte zurückliegenden Diktaturen von Hitler, Stalin, Mussolini, Franco, Ceausescu. Oder daran, wie es vor zwei oder drei Generationen mit der medizinischen Versorgung stand, mit der durchschnittlichen Lebenserwartung, mit den Zugverbindungen, mit dem Bildungsangebot und den Möglichkeiten, die eigene Stimme in die Öffentlichkeit zu bringen.
Wie erklärt man sich die Diskrepanzen zwischen den statistisch kaum bestreitbaren materiellen und sozialen Fortschritten in vielen Lebensbereichen und den medial ständig anschwellenden Protestwellen individueller und kollektiver Frustration über angeblich unerträgliche und ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse?
Der Hunger kommt mit dem Essen
Mit diesen Fragen hat sich schon der französische Historiker Alexis de Tocqueville beschäftigt, der mit seinem 1840 erschienen Buch «Über die Demokratie in Amerika» berühmt wurde, das bis auf den heutigen Tag zu den Klassikern der historischen Literatur zählt. Tocqueville bemerkt in seiner Studie über den noch jungen amerikanischen Staat mit seiner damals neuartigen demokratischen Verfassung (die allerdings die im Süden weitverbreitete Sklaverei nicht verhinderte): «Der Hass, den die Menschen gegenüber Privilegien empfinden, wächst im Verhältnis zur Abnahme dieser Privilegien, so dass die demokratischen Leidenschaften am heftigsten zu lodern scheinen, wenn sie am wenigsten Brennmaterial haben.» Wenn überall Ungleichheit herrsche, so nehme man keine einzelne davon besonders wahr. Demgegenüber werde die geringste Ungleichheit in einem Umfeld allgemeiner Gleichheit als besonders hassenswert empfunden.
Man kann dieses von Tocqueville erkannte Paradox auch auf die altbekannte Volksweisheit «L’appetit vient en mangeant» verkürzen. Hätten unsere Grossväter oder Urgrossväter sich vorstellen können, mit wie viel Komfort und welchen sozialen Sicherungssystemen die grosse Mehrheit in den meisten westlichen Demokratien lebt, so hätten sie sich wahrscheinlich gewundert über die weitverbreitete Wut auf den Status quo und die oft pauschale Verachtung gegenüber dem sogenannten politischen Establishment.
Der Umkehrschluss
Doch man kann den Spiess auch umdrehen. Denn streng nach der Logik von Tocquevilles Beobachtung lässt sich argumentieren, dass die in der Öffentlichkeit schärfer und schriller aufbrandenden Proteste letzten Endes ein Beweis dafür sind, dass unsere Gesellschaften demokratischer geworden und die sozialen Ungerechtigkeiten insgesamt im Abnehmen begriffen sind.
Werden die Wutbürger und Protestblogger sich von diesem Umkehrschluss beeindrucken lassen? Damit ist kaum zu rechnen. Ihr Verstummen würde ja im Sinne der Tocqueville-Logik Stillstand oder Rückschritt des sozialen Fortschritts bedeuten.