Einer meiner Grossväter war ein „angry old man“. Schon in jüngeren Jahren ein Heisssporn und Raufbold, leicht entflammbar durch Alkohol, als Soldat abdetachiert in eine Arbeitskompanie zum Bau der Eisenbahnstrecke Bern-Neuenburg, um seinen sanguinischen Überschuss abzuführen, blieb er bis ins hohe Alter ein grantiger und sperriger Kloben von Mann. Im Altersheim führte er sein raubauziges Leben fort und schlug mit seinem Gehstock auch schon mal auf seine greisen Zimmergenossen ein – allesamt „Nuscheler“ – , so dass er schliesslich in der psychiatrischen Klinik Münsingen sediert werden musste. Derart wider Willen „beruhigt“ fand er denn seine letzte Ruhe.
In der gleichen Klinik starb ein weitaus berühmterer Mann im Februar 1993, einer der grössten Regisseure des Schweizer Films, Franz Schnyder. Der Grund der Einlieferung: Schnyder verlangte in einem Burgdorfer Geschäft mit vorgehaltener Pistole einen grösseren Geldbetrag, den er als ihm geschuldet betrachtete. Paranoia? Jedenfalls sass der Regisseur, ein rüstiger und stolzer Achtziger, auf einmal in der Akutstation. Der alte „Kummerbube“ nahm seine Einlieferung in die Klapsmühle nicht einfach so hin, er begehrte auf, bedingte sich einen privilegierten Patientenstatus aus, wies die Ärzte zurück und zurecht, erlaubte sich selber einen Freigang weg von der Klinik. Im Januar hatte sich Schnyder bereits mit einer Schere die Haut am Unterarm geritzt, was die Anstaltsärzte als Suizidversuch werteten. Zwangsmedikation war angesagt. Der alte Mann wurde unter Neuroleptika gesetzt, sein Trotz schwand, er starb an einer Lungenembolie, man vermutete, als Folge der Behandlung.
Die Flucht in den Trotz
Beide Schicksale spiegeln den gar nicht so seltenen Fall des biografischen Endpunktes vieler alter Menschen: die Flucht in die Altersrenitenz. Zunehmend isoliert, abgeschrieben, nicht wahrgenommen, von physischer und psychischer Seneszenz belästigt und bedroht, flüchten sie als Altlast der Gesellschaft in einen Trotzzustand, der ihnen vielleicht die nötige Aufmerksamkeit bringt. Die wenigsten erfreuen sich eines Prominentenstatus wie Franz Schnyder. Aber alle fordern sie im Grunde das Recht auf eine individuelle Biografie ein, die mehr ist als ein armseliger Bericht aus der Akutstation. In der Renitenz des Alters artikuliert sich ein genuines Bedürfnis des Menschen, nämlich Subjekt seiner Geschichte zu sein und zu bleiben, nicht zum Niemand zu verkommen. Im Alter droht das Verlöschen des Individuums, das Sterben in einer Kategorie: Senior.
Die philosophische Würde des Problems
Mit dem Phänomen beschäftigt sich selbstverständlich auch die Wissenschaft. Und sie hat dafür eine aparte Bezeichnung gefunden: „Irritable Male Syndrom“ (IMS), zu Deutsch: das Genervte-Männer-Syndrom. Gut beobachtbare Anzeichen: Nervosität, Reizbarkeit, Lethargie, Depression. Man ist diesem Syndrom sicher schon im Alltag begegnet. Generell stellt man es bei erwachsenen männlichen Säugetieren fest, wenn der Testosteronspiegel abfällt. Interessanterweise behauptete der russische Arzt Serge Voronoff bereits in den 1920er Jahren, durch Tranplantation von Affenhodengewebe ein Mittel gegen das Altern zu haben. Aber hier geht es nicht um derlei. Abgesehen davon, dass sie auch bei Frauen auftritt, hat die Frage der Altersrenitenz noch eine andere Dimension als bloss die geriatrische. Man beleidigt sie geradezu, wenn man sie auf das Geriatrische – sprich: Physiologisch-Psychologische – reduziert. Ihr gebühren philosophische Würde und Prüfung.
Die drei Alter
Jeder Mensch hat mindestens drei Alter, ein biologisches, ein persönliches und ein soziales. Das erste ist jenes des Körpers im objektiven Blick der Biologie, das zweite erscheint in meinem Blick auf meine Person, und das dritte im Blick der anderen auf mich. Es handelt sich, auf einen Nenner gebracht, um Prozesse des Fremdwerdens. Der Körper wird einem fremd: Der Haaransatz weicht zurück, dafür wächst der Bauchansatz, die Haut wird runzlig und fleckig, Arthritis sucht die Glieder heim. Die Person wird einem fremd: Bin ich eigentlich noch der, der ich zu sein meine? Mein zupackender jugendlicher Idealismus ist erlahmt, Skepsis und Rückwärtsgewandtheit schleichen sich ein in mein Denken. Die soziale und kulturelle Umwelt wird einem fremd: Freunde, Bekannte, Menschen gleichen Jahrgangs sterben weg, ich verstehe die Welt und die Welt versteht mich nicht mehr, ich werde im Grunde immer unsichtbarer – nichtexistenter. Ich erlebe die wahre Kategorie des Alters: nichts zu sein.
In der Möglichkeitsform existieren
Den Begriff des sozialen Alters hat Jean Améry in seinem grandiosen, vor fünfzig Jahren geschriebenen Essay „Über das Altern“ geprägt, und hier muss die Philosophie ansetzen. „Was heisst das: soziales Altern?“ fragt Améry. Und seine Antwort: „Im Leben eines jeden Menschen gibt es einen Punkt Zeit (..), wo er entdeckt, dass er nur ist, was er ist. Mit einem Mal, so erkennt er, bewilligt die Welt ihm nicht mehr den Kredit seiner Zukunft, sie will sich nicht mehr darauf einlassen, ihn als den zu sehen, der er sein könnte.“
Nicht Sein, sondern Sein-Können. Der Mensch ist das Tier, das nicht so sehr im Indikativ als vielmehr im Konjunktiv lebt, in Erwartungen, Wünschen, Hoffnungen, Phantasien, Projekten. Die Möglichkeitsform ist seine Lebensform. Und Jugend heisst: Fast nur Konjunktiv, wenig Indikativ. Alter heisst sonach: Fast nur Indikativ, wenig Konjunktiv. So gesehen kann ein Dreissigjähriger alt und ein Achtzigjähriger jung sein. Kleine Zusatzbemerkung: Gerade eine Gesellschaft, die der Jugend keine oder wenige Zukunftsaussichten gewährt, läuft Gefahr, frühalte – und damit frustrierte – Generationen zu produzieren.
Die Absurdität der Condition humaine
Das Alter ist die siegelharte Tautologie: Du bist der, der du bist. Und im sozialen Alter wird die Tautologie zum Imperativ: Sei und bleibe, der du bist! Verständlich, wenn der Mensch dagegen aufbegehrt. Und deshalb kann man Altersrenitenz als reinste Ausdrucksform dieses existenziellen Aufbegehrens betrachten. Man revoltiert dagegen, dass einem der Kredit der Zukunft verweigert wird. Améry sieht darin sogar eine Art von absurder Condition humaine, die besonders im Alter aufbricht: „... unser Geschick als einzelne, die nicht leben können ohne die anderen, aber auch nicht mit ihnen und nicht gegen sie.“
Wogegen ist man im Alter? Gegen den Tod? Nein, gegen eine Nichtexistenz vor dem Tod, die sich im Schwund der Möglichkeitsform äussert. Auch der angejahrte Mensch weiss immer noch: Erst der Tod macht aus dem Anfang und den nachfolgenden Stadien eine definitive Geschichte im Indikativ: Das warst du. Vor dem Tod ist die Geschichte dieser Person nicht zu Ende, will heissen: Stirbt der Konjunktiv nicht, kann ihre Geschichte anders erzählt werden. Selbst im Alter. Und womöglich akzentuiert gerade das Alter dieses Anders-Erzählen-Können. Noch ist es nicht Nacht, sagt man sich trotzig, auch im Abenddämmer lässt sich noch einiges sehen.
Renitenz als Dimension des Humanen
Es gibt wahrscheinlich so viele Formen der Altersrenitenz, wie es Menschen gibt. Sicher kann man hier typologische Betrachtungen und statistische Analysen anstellen. Ich verzichte darauf. Mein Grossvater und Franz Schnyder sind gewissermassen Pole eines Spektrums der Altersrenitenz. Ich kenne die Motive beider nicht. Ich stelle mir vor, dass der eine auf ein existenzielles Unbehagen mit seniler Rüpelhaftigkeit reagierte, im Altersheim vielleicht dumpf und düster ahnend, dass „es das nun gewesen ist“; während der andere, durchaus sich mit Projekten tragend, vielleicht feststellen musste, dass er die Summe des Vollbrachten war und nicht des Noch-zu-Vollbringenden. In beiden Fällen sind dies Erfahrungen, die schmerzen, beleidigen, frustrieren, an persönlicher Identität und Würde nagen, wütend und aufsässig machen – sofern sie einen nicht in Depression und Suizid stürzen. Man könnte auch sagen: Beide erkennen, dass der Horizont enger wird, sich schliesst. Und leben heisst, einen Horizont in der Welt aufmachen.
„Liebe“ und „böse“ Renitenz
Aber für uns öffnet sich ein Horizont, in dem wir einen Blick auf das Leben vom Alter her werfen und Renitenz, Nicht-einverstanden-Sein als eine wesentliche Dimension des Humanen begreifen können. Warum sollte sie im Alter verschwinden? Und wenn sie gerade hier ihre höchste Ausprägung fände? Wir kennen die sanfte Renitenz des Alters in Gestalt all der „lieben“ Eigenheiten und Macken von Senioren, und man kann sich darin durchaus ein erfülltes und glückliches Leben vorstellen: quasi ein Wohnen in seinen Altersschrullen, die einem die Gesellschaft gewährt. Aber die andere, die „böse“ Renitenz bleibt da als untergründig rumorende Empörung über ein Sterben in Komfort und Konformität. Schon dieser oder jener Pensionär fragt sich insgeheim: War’s das? Wann habe ich eigentlich gelebt? In den „bösen“ Alten regt sich vielleicht der metaphysische Zorn: Jedes Menschenleben will mehr als einen braven Abgang im Altersheim oder Irrenhaus. Deshalb haut man mit dem Gehstock auf Altersheimbewohner ein oder bedroht öffentlich mit der Pistole einen Ladeninhaber.
Postscriptum
Von unfreiwillig abgründiger Komik erwies sich übrigens die Googlesuche nach „Altersrenitenz“. Die Maschine kennt den Begriff nicht und fragte mich kundendiensteifrig: Meintest du Altersresidenz? Es folgten Angebote in jeder Preislage. Ein erbaulicher Horizont: Leben in der Altersresidenz statt in der Altersrenitenz. Resignation und nicht Revolte. Wenn das kein Grund zum Renitentwerden ist.