Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges vor viereinhalb Jahren fragen sich die Beobachter, ob und wann dieser Krieg sich auf Libanon auswirkt.
Bisher war es den Libanesen immer wieder gelungen, einen Zusammenbruch ihres Regimes zu vermieden. Und dies, obwohl das Land unter dem Krieg in Syrien stark leidet. Doch es gelang bisher den Libanesen mit immer neuen Kniffs die Regierung an der Macht zu halten.
Regierungsunfähige Regierung
Doch eigentlich ist diese Regierung seit zehn Jahren blockiert und regierungsunfähig. Dies deshalb, weil sich zwei Blöcke unversöhnlich gegenüberstehen.
- Einerseits die Hizbullah, die von Iran gestützte und bewaffnete Partei der libanesischen Schiiten,
- andrerseits die Sunniten-Partei des ermordeten Ministerpräsidenten Rafik Hariri und seines Sohnes Saad Hariri. Er lebt in Paris, weil er fürchten muss, von Hizbullah ermordet zu werden.
Die libanesischen Christen sind geteilt, weil General Michel Aoun mit seiner maronitischen Gefolgschaft als Verbündeter des Hizbullah agiert. Es gibt zahlreiche kleinere Zwischengruppen, die nicht voll zu einer der beiden Hauptparteien gehören, sich jedoch mit der einen oder der anderen verbündet haben.
Im Hintergrund Iran und Saudi-Arabien
Die Kämpfer der Hizbullah sind der libanesischen Armee überlegen. Sie verfügen über schwerere Waffen und sind besser ausgebildet und organisiert. Um doch ein Gleichgewicht zur Hizbullah herzustellen, hat Saudi-Arabien der libanesischen Armee neue Waffen versprochen.
Doch der Oberkommandant der Armee, ein Christ, hätte eigentlich auf den kommenden September zurücktreten sollen. Auf einen Nachfolger konnte man sich nicht einigen. Der Verteidigungsminister hat daher auf eigene Faust die Dienstzeit des Oberkommandanten um ein weiteres Jahr verlängert. Doch Hizbullah wirft nun dem Verteidigungsminister vor, er habe dadurch die Verfassung verletzt. Also ein weiterer Streitpunkt.
Der Kalte Krieg zwischen Saudi-Arabien und Iran zeigt sich auch in Libanon. Die Saudis sind Freunde und Geldgeber der sunnitischen Hariri-Partei; die Iraner liefern Waffen und Geld an Hizbullah.
Kein Staatspräsident
Die politische Blockade lähmt Parlament und Regierung. Die eine Seite hindert stets die andere Seite daran, Beschlüsse zu fassen. Das Land kann sich nicht einmal auf einen Staatspräsidenten einigen.
Libanon hat seit Mai 2014, als der letzte Präsident, Michel Suleiman, zurücktrat, keinen Präsidenten mehr. Das Parlament ist seither 27 Mal zusammengetreten, um einen neuen Präsidenten zu wählen. Dies müsste mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der 128 Abgeordneten geschehen. Doch eine solche Mehrheit war nicht zu finden. Der Präsident hätte eine wichtige Funktion; er ernennt den Regierungschef.
Da kein Ministerpräsident ernannt werden kann, hat die Regierung ihr Mandat verlängert und bleibt "vorläufig" im Amt. Sie ist jedoch in sich
selbst gespalten und daher nicht in der Lage, Beschlüsse zu fassen.
Was das Parlament angeht, so hat es seine eigene Amtsdauer bereits zweimal verlängert, weil keine Wahlen stattfinden können, bevor nicht ein neues Wahlgesetz verabschiedet ist. Dieses aber kommt nicht zustande, weil jeder Block den andern hindert, eventuell aus dem Wahlgesetz Vorteile zu ziehen.
Nur noch ein Ziel: Blockade
Vor dem syrischen Bürgerkrieg konnten die beiden Rivalen – wenn auch schon mit grossen Schwierigkeiten – gelegentlich Kompromisse finden. Damals erklärte sich Hizbullah als Partei der libanesischen Schiiten; damit zeigte sie sich am Wohlbefinden Libanons interessiert. Doch jetzt unterstützt Hizbullah mit etwa 5000 Kämpfern die Asad-Regierung in Syrien. Die Hizbullah-Gegner sehen dies als Beweis, dass die schiitische Partei in Wirklichkeit Iran näher steht als Libanon.
Die libanesischen Sunniten sympathisieren ihrerseits mit den syrischen Rebellen und lassen ihnen - oftmals mit saudischer Hilfe - Geld und Waffen zukommen. Dies sehen die Freunde von Hizbullah als Unterstützung der Feinde, gegen die ihre Kämpfer ihr Leben einsetzen. Aus diesem Grunde haben sich die Beziehungen zwischen beiden Rivalen noch weiter verschlechtert. Innerhalb Libanons sind beide Seiten nur noch darauf bedacht, einander zu blockieren.
Die Bevölkerung verliert die Geduld
Die so verursachte Aktionsunfähigkeit von Regierung und Parlament, kombiniert mit dem Fehlen eines Präsidenten, wirkt sich schädigend auf das tägliche Leben der libanesischen Bürger aus. Seit dem 17. Juli
verfügt Libanon über keine Deponie für seine Abfälle mehr. Die bis dahin bestehende war voll und wurde geschlossen. Die Regierung ist
nicht imstande, einen neuen Standort zu finden. Seither häufen sich die Abfälle in Beirut und in anderen Orten auf Strassen und Plätzen.
Es bildete sich eine Bürgerbewegung, die sich "You stink!" nennt. Was sich auf die Abfälle, aber auch auf die Regierung bezieht. Am vergangenen Samstag und Sonntag demonstrierten Tausende von Jugendlichen zuerst vor dem Parlament, dann auf dem zentralen "Märtyrerplatz". Die Polizei setzte Tränengas und Schreckschussmunition ein. 16 Demonstranten wurden verwundet. Laut Polizeiangaben erlitten 35 Polizisten leichtere Verletzungen.
Drohender Staatsbankrott
Am Sonntag versuchte Ministerpräsident Tammam Salam die Lage zu beruhigen. Er erklärte, übermässige Polizeigewalt werde untersucht und bestraft. Doch als am Sonntag neue Demonstrationen ausbrachen und die Protestierenden den Rücktritt der Regierung forderten, drohte der Ministerpräsident in einer Fernsehansprache mit seinem Rücktritt.
Er erklärte, er wolle nicht "Teil des Machtzusammenbruches sein." Die hohen Beamten und die politischen Kräfte müssten die Verantwortung dafür übernehmen. Er fügte hinzu, im kommenden Monat könnten die Staatsangestellten nicht mehr entlohnt werden, weil das Geld fehle. Der Staat sei so tief verschuldet, dass er bald bankrott sei.
Jeder fünfte Bewohner ist ein Flüchtling
Die Blockierung der Regierung hat nicht nur zur Abfallkrise geführt. Die Bürger klagen über fehlendes Benzin und eine nicht funktionierende Elektrizitätsversorgung. Der Staat musste auch auf internationale Unterstützungen und Hilfsgelder in der Höhe von einer Milliarde Dollar verzichten. In den Grenzgebieten haben Bewaffnete des „Islamischen Staats“ (IS) und der Nusra-Front begonnen, Einfluss auszuüben. Das Land wird zusätzlich belastet, weil einer von fünf Bewohnern Libanons ein Flüchtling aus Syrien ist. Die meisten von ihnen sind mittellos.
Die Protestbewegung hatte auch für Montag weitere Demonstrationen angesagt. Doch nach dem Tod eines Demonstranten wurden sie vorläufig abgesagt. Der Müll jedoch liegt und stinkt weiterhin auf Strassen und Plätzen. Es wird erwartet, dass es bald zu neuen Protestaktionen kommen wird.