Wissenschaft überwindet falsche Vorstellungen; so jedenfalls ihr populärer Anspruch. Doch der Aberglaube ist nicht nur resistent und zäh, er steckt manchmal auch in angeblich wissenschaftlichen Thesen. Totgesagte Ideen halten sich oft hartnäckig am Leben.
Für viele sich fortschrittlich dünkende Menschen stellt die Wissenschaftsgeschichte so etwas wie eine Leiter dar, auf der wir immer höher steigen, dabei Aberglauben und Ignoranz hinter uns lassend. Astronomie hat die Astrologie abgeworfen, so wie die klassische Mechanik die aristotelische Bewegungslehre, die Chemie die Alchemie, die Physiologie die paracelsische Pharmakologie oder die Neurologie die Psychologie. Dadurch, dass wir Ideen falsifizieren, kommen wir der Wahrheit ein Stück näher, lehrte der Philosoph Karl Popper.
Epidemiologie des Aberglaubens
Stimmt das? Sofort bietet sich eine Handvoll Gegenbeispiele an: Viele Leute glauben heute noch an eine flache Erde, Exorzismus, Astrologie, Kreationismus, okkulte Heilkräfte der Steine. Man könnte diese Epidemiologie des Aberglaubens ad libitum fortsetzen. Soll man einfach sagen, diese Leute seien töricht und unbelehrbar? Das wäre nun selber töricht. Einer der grössten Physiker des letzten Jahrhunderts, Niels Bohr, antwortete einmal auf die Frage, ob er an das Hufeisen über seiner Haustür glaube: «Natürlich nicht. Aber wissen Sie, es soll auch nützen, wenn man nicht daran glaubt.»
Ob er dies ernst meinte, sei dahingestellt. Jedenfalls ist das Beharrungsvermögen alter, überständiger Ideen eine feststellbare Tatsache. Und es hat mehrere Gründe. Zunächst einen kognitiven. Wir leben in einer zunehmend komplexeren Welt. Die wissenschaftlichen Theorien, die uns das Geschehen erklären, wachsen uns über den Kopf in immer abstraktere Höhen. Sie sind selbst für Eingeweihte oft kaum mehr verständlich. Sie gewähren uns keine kognitive Heimat.
Betrachten wir zum Beispiel das Horoskop. Es ist auch im Zeitalter der wissenschaftlichen Prognose weit verbreitet und beliebt. Vielleicht gerade deshalb, weil es einer Epoche entstammt, in der man an die Verknüpfung des menschlichen Schicksals mit dem Gang der Sterne glaubte. Das Universum der Astrologie ist kein physikalisches, sondern ein hermeneutisches: voller deutbarer Zeichen. Der Himmel geht mich hier «persönlich» etwas an, er «sagt» mir etwas. Ich fühle mich «zuhause», anders als im kalten, trost- und sinnlosen Universum der Astrophysik. Wir wissen zwar heute, dass es solche astralen Verknüpfungen nicht gibt, aber wir glauben nicht, was wir wissen! – Ich nenne dies das Wissensparadoxon.
Ein anderer Grund für das Überleben alter Ideen liegt in der «Provinzialität» unserer Alltagserfahrung. Unsere Rede von Aufgang und Untergang der Sonne ist «provinziell». Wir haben ja durchaus die Botschaft des Wissens vernommen, dass dies der Standpunkt eines überwundenen geozentrischen Weltbildes sei, aber uns fehlt der Glaube. Unsere Intuition, die sich vor allem an Alltagssituationen orientiert, teilt uns wenig über die Rotation der Erde oder die Gekrümmtheit der Erdoberfläche mit. Es braucht schon ein bisschen Überlegung und genaue Beobachtungsgabe. Je mehr sich unsere Theorien von diesen Alltagsintuitionen entfernen, desto mehr verlangen sie eine Adaptation unserer Gehirne an die ungewohnten Situationen.
Sekundäre Elaborationen
Falsche Ideen können auch immun gegenüber der Wirklichkeit sein, weil sie die Wirklichkeit überhaupt erst schaffen helfen. Zum Beispiel die ökonomische. Nach der globalen Finanzkrise listete der australische Wirtschaftswissenschafter John Quiggin fünf «Zombie-Ideen» auf, die nun eigentlich hätten beerdigt werden müssen. Insbesondere die sogenannte Markteffizienzhypothese. In einer Version besagt sie, dass die im Finanzsektor generierten Preise das optimale Kriterium zur Abschätzung jeglicher Investitionen darstellen, weil alle Information bereits in den Preisen enthalten ist. Genau dies wurde durch die Krise falsifiziert. Aber die Hypothese war, so Quiggin, «zu zweckdienlich, um einfach aufgegeben zu werden». Too big to fail, auch bei Ideen.
Das erinnert eigentlich an eine «primitive» Verteidigungsstrategie von Hypothesen, die der Kulturanthropologe Edward E. Evans-Pritchard in den 1920er-Jahren bei den Zande in Zentralafrika beobachtet hatte. Um eine Antwort auf eine schwierige Frage über die Zukunft zu erhalten, gibt der Wahrsager einem Huhn Gift. Je nachdem, ob das Huhn überlebt, trifft die Voraussage zu oder nicht. Die Kraft des Orakels wird nicht angezweifelt. Liegt es falsch, dann greift man zu dem, was Evans-Pritchard «sekundäre Elaboration» nennt. Man erfindet Zusatzhypothesen, vulgo: Ausreden. Zum Beispiel hat man nicht die richtige Substanz verabreicht, ist sie alt und verdorben, spielt Hexenzauber hinein oder ist der Wahrsager schlicht inkompetent. Durch sekundäre Elaboration behauptet sich letztlich jeder Mumpitz.
Neuropsychologie der Aufklärungsresistenz
Sind wir aufklärungsresistent? Der Neuropsychologe Kevin Dunbar von der University of Maryland untersuchte die intuitiven Physikkenntnisse von Studenten genauer. Dabei stellte er fest, dass viele der Befragten «überwundenen» Ansichten zuneigten, etwa jener von Aristoteles, wonach schwere Kugeln schneller fallen als leichte. Eine Ansicht, die Galilei in einem berühmten Gedankenexperiment ad absurdum führte.
Warum also lassen uns solche überwundenen Vorstellungen nicht los? It’s the brain, stupid! Die wissenschaftliche «Zurückgebliebenheit» lokalisierte Dunbar im dorsolateralen präfrontalen Cortex, einem Areal, das sich bei Heranwachsenden erst spät entwickeln soll. Es spiele eine entscheidende Rolle im Verdrängen von ungewollten, ungewohnten Ideen. Physikstudenten müssten, so Dunbar, ihren dorsolateralen präfrontalen Cortex bemühen, um ihre naiven «aristotelischen» Vorstellungen zu unterdrücken und auf diese Weise zu reifem physikalischem Denken zu gelangen.
Man könnte geradezu vom Prinzip der Erhaltung alter Vorstellungen sprechen. Ohne uns dessen bewusst zu sein, bedienen wir uns einer Sprache und einer Metaphorik, die oft tief in unserer Geschichte wurzeln. Besser als die Leiter schiene sich daher eine andere Metapher, aus der Geologie, zu eignen: Unser Wissen gleicht einem Stück Erdboden mit seinen sedimentierten Schichten; zuoberst unsere eigene rezente Epoche, darunter frühere Lagen. In ihnen liegen die Wissens-Residuen aus alter Zeit bewahrt, Wurzeln, aus denen oft wieder Triebe an die Oberfläche stossen, zu neuer Blüte erweckt. Ideen, welche die Vorsokratiker als reine Denkübung erwogen – die Atomhypothese oder die Viele-Welten-Theorie –, lagen Jahrtausende begraben, bis sie in den Schichten des 20. und 21. Jahrhunderts zu physikalischer «Seriosität» erwachten.
Gewisse Denkleichen sollten beerdigt bleiben
In diesen Tiefenschichten liegen allerdings auch Denkleichen, die besser beerdigt blieben. Betrachten wir das Beispiel der Homöopathie, die schon lange als Disciplina non grata verschrien ist. Besonders die Idee eines «Wassergedächtnisses» hat in letzter Zeit an Aufmerksamkeit gewonnen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir mit Wasser eine banale und vitale Substanz vor uns haben, die aber noch lange nicht genügend erforscht ist. Sie manifestiert einen überwältigenden Reichtum von Molekülstrukturen: Cluster. Das hat Chemiker und Informationstheoretiker auf den Gedanken der strukturellen Informationsübertragung gebracht: Wenn nicht die Zusammensetzung, sondern die Struktur einer Substanz ihre Eigenschaften ausmachen, dann könnte es ja sein, dass die homöopathische Lösung quasi die strukturelle Information – den «Geist» – des Heilmittels «eingeprägt» erhält, selbst wenn sie kein einziges Molekül der heilenden Materie mehr enthält.
Das ist nun allerdings ein höchst spekulativer und theoretisch nicht ausgeführter Gedanke. Und es bestehen grosse Zweifel, dass er Licht in die Black Box des Schüttelns und Verdünnens von homöopathischen Elixiren bringt. Es hilft hier auch nicht der Hinweis weiter, dass die Wirksamkeit bisher weder endgültig bewiesen noch widerlegt werden konnte. In solchen Fällen dürfte ein durchdachtes Mass an «Orthodoxie» angebracht sein: Die Wirksamkeit von chemischen Mitteln hat sich auf so vielen Feldern bestätigt, dass es vielleicht doch an der Zeit wäre, die homoöpathische Idee endgültig zu begraben. Eine einfache erkenntnistheoretische Lektion erteilt sie uns dennoch: Sagen wir niemals vorschnell, eine Idee sei gestorben. Totgesagtes lebt vielleicht gerade in der Wissenschaft am längsten.