Zwei prominente Teheraner Rechtsanwälte reichen Klage gegen Irans Staatsoberhaupt Ali Chamenei ein. Er habe, wegen unterlassener Hilfeleistung in der Corona-Pandemie, den Tod von mindestens hunderttausend Menschen verursacht. Nicht genug: Aus dem Gefängnis schreiben politische Gefangene Protestbriefe gegen Putin, obwohl Teheran auf der Seite des Kreml steht. Die Strasse ist nicht mehr der einzige Ort für politische Proteste.
Aussichtslos, aber hoffnungsvoll: Das hört sich widersprüchlich an, und so ist es auch. Doch wir sind in der Wirklichkeit der Islamischen Republik Iran, eines politischen Systems, dessen Bezeichnung selbst auf Widersprüche hindeutet. Hoffnung und Zuversicht klingen auch in der triumphierenden Stimme von Mohammad Reza Faghihi, wenn er über die Klageschrift berichtet, die er gerade der iranischen Justiz überreicht hat. Ein beispielloser Schritt – und den «historischen Sieg» sieht Faghihi kommen. Wenn nicht jetzt und kurzfristig, so gewiss in absehbarer Zukunft. Und wenn nicht in einem iranischen, dann vielleicht in einem anderen Gerichtssaal, irgendwo jenseits der iranischen Grenze. Der bekannte Teheraner Rechtsanwalt hat gerade gemeinsam mit seinem Kollegen Arash Keykhosravi eine Anklageschrift eingereicht, die in einem autoritären Regime wie dem iranischen ungeheuerlich, ja, lebensgefährlich sein kann.
Eine historische Klageschrift
Die Beklagten des 22-seitigen Schriftsatzes sind der «Staatsbedienstete» Ali Chamenei sowie dreizehn seiner Mitarbeiter, alle erreichbar im iranischen Regierungssitz in der Pasteurstrasse, Teheran. Der Beschuldigte soll mit anderen Komplizen in gemeinschaftlicher Tat beziehungsweise durch unterlassene Hilfeleistung den Tod von mehr als hunderttausend Menschen verursacht haben.
Es geht um Corona und um all das, was die Verantwortlichen der Islamischen Republik während der Pandemie absichtlich getan oder unterlassen haben. Nach den persönlichen Angaben zu den Beklagten folgen die Registriernummer der Klage und die Bestätigung der Gebührenzahlung, Datum und Stunde der Registrierung sowie Stempel und Unterschrift.
Auch als Nicht-Jurist kann man beim Durchlesen der Klage leicht erkennen, dass die Autoren der Schrift erfahrene und versierte Juristen sind, die mit allen Finessen der iranischen Justiz bestens vertraut sind. Gestützt auf Zeugenaussagen, amtliche Dokumente und offizielle Erklärungen legen die Autoren in ihrer Klageschrift minutiös dar, wie Irans Staatsoberhaupt Ayatollah Ali Chamenei und andere Beklagte die Existenz des Coronavirus zunächst negiert, dann verharmlost und später die Verhütung der Krankheit verhindert haben, indem sie den Import westlicher Impfstoffe untersagt und damit mutwillig der rasanten Verbreitung der Krankheit Vorschub geleistet und so schliesslich den Tod von mindestens hunderttausend Menschen verursacht haben.
Ein Regime im falschen Jahrhundert
Unvorstellbar, dass diese Klage in der iranischen Justiz zu einem Gerichtsprozess führt. Deshalb erübrigt sich auch die Frage nach dem möglichen Prozessverlauf oder danach, ob die Kläger irgendeine Siegeschance sehen. Interessant ist eine andere Frage: Wie kann man eine solche ungeheuerliche Klage gegen den mächtigsten Mann des Landes bei der iranischen Justiz überhaupt registrieren lassen, ohne sofort von ihren Wachmeistern verhaftet, höchstwahrscheinlich sogar verprügelt zu werden und dann in einem Verlies der Revolutionsgarden zu verschwinden?
Die Antwort des Anwalts offenbart die Widersprüche einer «Republik», deren Gesetze zum grossen Teil aus dem Mittelalter stammen, die aber zugleich im 21. Jahrhundert agiert. Die iranische Justiz müsse nach eigenen Angaben derzeit 18 Millionen Akten bewältigen. Das sage viel aus über die ungeheure Spannung, die im Land herrscht. Fast jeder Erwachsene des Achtzig-Millionen-Menschen-Volkes müsse sich mit irgendeinem Gerichtsprozess herumschlagen. Deshalb erübrige sich ein persönliches Erscheinen, alle juristischen Schritte liefen in dieser Republik digital. Nach der Anmeldung beim Justiz-Portal erhält man einen Code, mit dem man seine Klage einreichen und den gesamten Prozessverlauf bis zu einer Entscheidung digital bearbeiten und verfolgen kann. Nun warten Chameneis Kläger.
«Wir waren elf Juristen, als wir uns im vergangenen Juli in einem Büro in Teheran trafen, um diese Klage zu verfassen und gemeinsam einzureichen. Doch das Büro wurde plötzlich gestürmt, wir wurden verhaftet, fünf von uns sind immer noch im Gefängnis», sagt Faghihi, der noch telefonisch erreichbar ist. Der Rechtsanwalt, der Menschenrechtsaktivisten verteidigt, betrachtet seine Klage als einen Akt des zivilen Ungehorsams, als Bürgerpflicht. Über den Prozessverlauf oder einen juristischen Sieg will er deshalb nicht spekulieren, er warte auf Reaktionen, auf «alles, was kommt», dann erst könne er sagen, wie es weitergehe.
Hat die Strasse ausgedient?
Auch im Iran müsse politische Partizipation über zivilen Ungehorsam laufen, sagt der Anwalt. Von jemandem, der moralisch motiviert zivilen Ungehorsam leistet, könne man nicht erwarten, dass er die politische Ordnung, in der er agiere, bedingungslos akzeptiere. Es reiche aus, wenn er die Gesetze oder den Staat als Ganzes temporär akzeptiere, erläutert der Jurist. Dieser Grundsatz scheint für viele bekannte Aktivisten zum Massstab des politischen Handelns geworden zu sein. Denn nach den Protestaktionen der letzten zwei Jahren, die alle sehr blutig und mit Hunderten Toten endeten, hat die Strasse als einziger Ort der politischen Partizipation einstweilen ausgedient. Die Orte und Formen des Widerstandes sind zahlreich geworden.
Einen Tag nach dem Überfall Putins auf die Ukraine schreibt die mutige Menschenrechtsaktivistin Nasrin Sotoudeh aus dem Gefängnis einen offenen Brief an den Uno-Generalsekretär und bittet ihn, alles für das Ende des Blutvergiessens zu unternehmen. Sie beendet ihren Brief mit dem Satz: «Das ist Ihre, meine Bürgerpflicht und die eines jeden friedliebenden Menschen.»
Diese Pflichtübung kommt von einer in einem Land inhaftierten Frau, dessen Machthaber Putins Narrative über diesen Krieg rund um die Uhr wiederholen. Fünf Tage nach diesem Brief schrieben sechs andere politische Gefangene aus einem anderen Gefängnis des Landes ebenfalls einen Protestbrief gegen die russische Invasion in die Ukraine.
Gleichzeitig steigt der staatliche Druck gegen unterschiedliche Formen solcher zivilen Aktivitäten. Am ersten März schlossen die Sicherheitskräfte das «Haus der Sonne» im Süden Teherans. Seit fünf Jahren betreute dort eine Gruppe politischer Aktivistinnen drogensüchtige und obdachlose Frauen. Zuletzt wurden 100 Frauen und ihre Kinder täglich beraten und betreut. Insgesamt hat das «Haus der Sonne» in den letzten fünf Jahren 2’500 drogensüchtige Frauen betreut.
Die Quelle der Kreativität werde nie versiegen, es gebe immer eine Möglichkeit für zivile Aktivitäten, sagte Leila Arshad, eine der Gründerinnen, nach der Versiegelung des «Hauses der Sonne».
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal