Zu diesen Missständen zählen in erster Linie: Arbeitslosigkeit, vor allem für die junge Generation, steigende Preise, wachsende Steuern, sinkende oder gleichbleibende Löhne, immer zunehmende „informelle“, das heisst „schwarze“ Arbeit, weil feste Anstellungen fehlen. Dazu kommen grosse Unterschiede im Einkommen und Lebensstandard zwischen den relativ wohlhabenden Küstengebieten und den verelendeten Städten und Dörfern des Inneren und zunehmender Abstand zwischen den Unter- und Oberschichten.
Wie vor dem Sturz Ben Alis
All diese Missstände hatten schon zu der früheren Massenerhebung beigetragen, die 2011 zum Sturz des Regimes Ben Alis führten. Doch sie sind seither eher schlimmer als besser geworden, und auf diesen Punkt zielt die politische Kritik der Demonstranten. Dies zeigt sich schon am Slogan, unter dem die Aktivisten zu den gegenwärtigen Demonstrationen aufrufen. Er lautet „Mfish nestannew“ (Worauf warten wir noch?) Was impliziert: „Wir haben lange genug gewartet, und nichts ist geschehen!“
Die Enttäuschung über die Revolution und die Verheissungen, die sie nicht erfüllte, ist landesweit. Den Politikern wird vorgeworfen, sie täten nichts für die Bevölkerung, und in der Tat ist es ihr seit der Revolution nicht besser gegangen, sondern, wie die Demonstranten klarstellen, eher umgekehrt. Die Politiker werden als Leute gesehen, die für relativ gute Gehälter unendlich lang miteinander reden, weil untereinander zu diskutieren und zu debattieren bequemer und leichter ist, als etwas für das Land zu leisten. Wenn sie etwas leisten, so die Klage, tun sie das für sich selbst und auf Kosten der Allgemeinheit. Korruption wird ihnen über den Vorwurf der Untätigkeit und Wirkungslosigkeit hinaus angelastet.
„Wozu nützte die Revolution?“
Sieben Jahre sind seit der Revolution vergangen, so lautet das Urteil „der Strasse“ und nichts ist besser geworden. „Wo ist die Revolution geblieben?“ fragt die immer zunehmende Masse der Benachteiligten. Anlass zu den gegenwärtigen Demonstrationen gab das neue Finanzgesetz, das am 1. Januar in Kraft trat. Es sieht steigende Steuern vor, darunter den Zuwachs der Umsatzsteuer, sinkende Reallöhne wegen geplanter Geldentwertung, eine Einstellungsbremse für Staatsangestellte, steigende Benzinpreise. Das sind Massnahmen, die durch den IMF erzwungen wurden und Vorbedingung dafür sind, dass dieser dem Staat eine weitere Tranche von Anleihen in der Höhe von 2,3 Milliarden Dollars gewährt. Das Budgetdefizit soll durch diese Schritte reduziert werden. Die Staatsschulden sind auf 70 Prozent des gesamten Nationaleinkommens angewachsen.
Sofort am 1. Januar sind alle Lebensmittelpreise angestiegen. Das Schild im Laden eines Kolonialwarenhändlers wird zitiert, auf dem geschrieben steht: „Tadelt nicht uns für die höheren Preise, tadelt den Staat!“ Der Minimallohn von 326 Dinar monatlich (111 Euro) soll gerade ausreichen für 14 Tage an Lebensmitteln für eine vierköpfige Familie. Die Arbeitslosen und Unterbeschäftigten im „informalen Sektor“, müssen ohne diesen Minimallohn auskommen, und irgendwie auch mit ernährt werden.
Labile Demokratie
Tunesien war es als dem einzigen arabischen Staat gelungen, nach dem Sturz des langjährigen Gewaltherrschers durch die Volksdemonstrationen ein demokratisches Regime einzurichten. In Ägypten, in Jemen, in Libyen und in Syrien wurde dies ebenfalls angestrebt – und schlug fehl. Doch auch in Tunesien hat sich das demokratische Regime bisher nicht so weit zu festigen vermocht, dass es als gesichert angesehen werden kann. Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme drohen es zu ersticken.
Warum ist es bisher misslungen, diese Grundprobleme erfolgreich anzugehen? Dies ist letztlich eine politische Frage, denn ein politisches System, unter dem sich die ohnehin kritischen sozialen und wirtschaftlichen Probleme weiter verschlechtern statt verbessern, funktioniert schlecht oder falsch. Deshalb muss man fragen: „Was lief schief mit der tunesischen Demokratie?“
Grundspaltung und Kompromiss
Die Grundschwierigkeit der tunesischen Revolution war von Beginn an die Spaltung der Gesellschaft in zwei feindliche Lager, jene der islamistischen und der säkularen Gruppen. Ihr Ringen gegeneinander bestimmte die ersten Jahre der Revolution. Die sehr gemässigt und von Beginn an demokratisch ausgerichtete islamistische Gruppierung an-Nahda, unter der Führung des aus dem Exil heimgekehrten Politikers Rachid al-Ghannouchi, gewann eine relative Mehrheit in den ersten Wahlen nach der Revolution.
Doch gegen sie bildete sich rasch eine Gegenformation, Nidaa Tunes (der Ruf, oder die Stimme Tunesiens), auf der Grundlage eines betonten Säkularismus, die dem Islamismus von an-Nahda entgegentrat. Für Nidaa Tunes, gegründet von dem Altpolitiker aus der Bourguiba-Zeit, Béji Caid Essebsi, war der Säkularismus der entscheidende gemeinsame Nenner, der links- und rechtsorientierte Wähler und politische Gönner zusammenbrachte.
Die Gewalt konnte vermieden werden
Zwei säkularistische Flügel, auf der linken und der rechten Seite des politischen Spektrums schlossen sich in Nidaa Tunes auf der Basis des Widerstands gegen den Islamismus zusammen. Der Kampf zwischen den beiden Fronten war in den ersten drei Jahren nach dem Rücktritt des bisherigen Machthabers Ben Ali heftig. Doch Tunesien hatte das Glück – oder zeigte genügend Vernunft und Mässigung –, dass es bürgerkriegsähnliche Zusammenstösse oder Gewaltmassnahmen, die Staatsstreichen gleichkamen, vermeiden konnte.
Zu solchen war es in Ägypten, in Libyen, in Jemen und in Syrien über vergleichbaren Grundspannungen zwischen pro-islamistischen und pro-säkularen Strömungen gekommen. Tunesien vermied dies in letzter Stunde durch das Einschreiten von vier gesellschaftlichen Gruppierungen: der Gewerkschaftszentrale UGTT, jene der Arbeitgeber, gemeinsam mit der Berufsverbindung der Juristen und dem Zusammenschluss der Menschenrechts-Aktivisten. Wofür die vier etwas später den Friedensnobelpreis für 2015 erhalten sollten.
An-Nahda verzichtet auf Islamismus
Ein Kompromiss zwischen den Säkularisten von Nidaa Tunes und den Islamisten von an-Nahda wurde erreicht, der es erlaubte, eine neutrale Regierung zu bilden und ein Grundgesetz auszuarbeiten, an dessen Formulierung beide Seiten beteiligt waren und letztlich gemeinsam arbeiteten, indem beide gegenseitige Zugeständnisse eingingen.
Der Anti-Islamismus von Nidaa wird gegenstandslos
An-Nahda beschloss, Religion und Politik zu trennen und nicht mehr als Partei aufzutreten, die ein „islamisches Regime“ anstrebe, sondern als eine demokratische politische Partei mit muslimischen Idealen und Leitvorstellungen. Mit dieser Umstellung verzichtete Ghannouchi letztlich auf den Islamismus seiner Partei, weil Islamismus im Wesentlichen dadurch gegeben ist, dass er sich weigert, Politik und Religion voneinander zu trennen.
Nidaa Tunes auf der Gegenseite zeigte sich bereit, mit an-Nahda zusammenzuarbeiten, um demokratische Spielregeln festzulegen, deren Rahmen einzuhalten sich beide Seiten verpflichteten. Nachdem sich erwiesen hatte, dass diese Zusammenarbeit funktionierte, fiel für Nidaa der gemeinsame Nenner weg, der säkular ausgerichtete Gruppen der linken und der rechten Seite des politischen Spektrums im Zeichen der Opposition gegen den befürchteten Islamismus von an-Nahda zusammengeklammert hatte.
Essebsi wird Präsident
Dies geschah jedoch erst, nachdem der Gründer und Chef von Nidaa, Caid Essebsi, die Zusammenarbeit der beiden Parteiflügel hatte ausnützen können, um sich Ende 2014 zum Staatschef wählen zu lassen. Die tunesinische Demokratie hat eine semi-präsidiale Verfassung erhalten, was bedeutet, dass der Präsident in ihr eine wichtige Rolle bei der Leitung der Exekutive innehat. Er ist nach Beratung mit dem Regierungschef zuständig für Fragen der Sicherheit, des Militärs und der Aussenpolitik.
Nidaa reduziert auf den rechten Flügel
Ein knappes Jahr nach der Wahl Essebsis zum Präsidenten kam es zum Bruch innerhalb der Nidaa-Formation zwischen den Gruppen des linken und des rechten Flügels. Essebsi verblieb mit dem rechten Flügel. Eine starke Minderheit von 22 Abgeordneten verliess die Partei und gründete eine eigene Gruppierung im Parlament, die sie „die Freie“ nannten. An-Nida verlor dadurch seine Mehrheit im Parlament. Die nun einseitig rechts orientierte Fraktion Essebsis blieb mit 64 Abgeordneten hinter an-Nahda mit 69 zurück. Die beiden Parteien beschlossen, ihre Zusammenarbeit im Parlament trotz der Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse weiterzuführen.
Andere parlamentarische Mehrheiten von minimaler Stabilität wären schwer erreichbar gewesen, weil die Mehrzahl der kleineren parlamentarischen Gruppen säkular und links eingestellt waren. Ihre Zusammenarbeit sowohl mit Nidaa wie auch mit an-Nahda wäre schwierig geworden. Sie standen zu weit links für Nidaa und waren zu betont säkularistisch für an-Nahda.
Gegenspieler wirken zusammen – mit Reibungen
Doch die beiden nun zusammenwirkenden Hauptparteien waren unvermeidlich auch Rivalen und politische Gegenspieler. Ihre Vorgeschichte gab beiden Seiten Anlass dem Partner zu misstrauen. Durch das Ausscheiden der links gerichteten Minderheit waren Essebsi und seine Restpartei umso mehr auf die Hilfe und Unterstützung jener Kreise angewiesen, die schon zuvor Nidaa gegen an-Nahda weitgehend finanziert hatten.
Das sind die wohlhabenden und die schwerreichen Geschäftsleute, die ihr Geld im Rahmen und in Zusammenarbeit mit dem abgesetzten Regime Ben Alis verdient hatten. Das Fussvolk und die Aktivsten von an-Nahda hatten dagegen unter Ben Ali die Gefängnisse bevölkert und waren oft Opfer von Folterungen geworden.
Versöhnung mit Ben Alis Gefolgsleuten?
Die wirtschaftliche und soziale Politik, die den beiden Flügeln der Regierungskoalition vorschwebte, war daher sehr unterschiedlich. Die Politiker von Nidaa und der Staatschef Essebsi (der die Führung seiner Partei an seinen Sohn Hafed Essebsi weitergegeben hatte) waren und sind der Ansicht, die Wirtschaft Tunesiens müsse dadurch wieder angekurbelt werden, dass die wohlhabenden Kreise aus den Zeiten Alis ihre Gelder und ihre wirtschaftlichen Fähigkeiten erneut in Tunesien zum Einsatz brächten.
Um dies zu bewirken, hatte Essebsi schon kurz nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten im Jahr 2015 ein „Versöhnungsgesetz“ vorgeschlagen, das in seiner ursprünglichen Fassung die Rehabilitation der Unternehmer und der hohen Beamten ermöglichen sollte, die im Zeichen der Revolution des Machtmissbrauchs und der Korruption angeklagt worden waren und teilweise vor Gericht standen oder geflohen waren.
Zurück zu Ben Ali?
In der Sicht des Staatschefs waren sie unentbehrlich, um Tunesien wirtschaftlich wieder voranzubringen. Für das Stimmvolk von an-Nahda waren es gerade diese Leute, die Tunesien und sie selbst 23 jahrelang in ihrem Würgegriff gehalten hatten. Es gab heftigen Widerstand gegen das Versöhnungsgesetz, jedoch mehr auf der Strasse als im Parlament. Auf der Strasse fanden sich Aktivistengruppenzusammen unter dem Slogan: „Wir wollen nicht vergessen“. Im Parlament jedoch suchte die Führung von an-Nahda die Zusammenarbeit mit Nidaa Tunes aufrechtzuerhalten.
Der Vorschlag des Präsidenten wurde zunächst von der Parlamentsmehrheit zurückgewiesen. Doch er wurde überarbeitet und kam mehrmals leicht verändert erneut zur Diskussion. Seine Gegner verfehlten nicht, darauf hinzuweisen, dass der Staatschef die Rehabilitation der Träger des Staates Ben Alis dermassen hartnäckig anstrebe, weil er und seine Partei auf diese Leute als Geldgeber und Stützen im Hintergrund der Partei angewiesen seien.
Hinausgeschobene Grundprobleme
Sie fanden auch, dass Essebsi und seine Partei dermassen auf ihren Rehabilitationswünschen beharrten, dass andere Hauptfragen vernachlässigt wurden, zum Beispiel die Ernennung einer neutralen Wahlbehörde, die eine Voraussetzung für die Durchführung von Lokalwahlen war. Der Streit innerhalb der De-facto-Koalition darüber, wer diese Kommission leiten sollte, dauerte so lange an, dass die Lokalwahlen viermal vertagt werden mussten. Die Lokalwahlen und auf sie aufbauende Regionalwahlen sind in der Verfassung als ein wichtiger Schritt zur Dezentralisierung des allzu zentralisierten politischen Systems vorgesehen. Sie sind nun auf den 6. Mai dieses Jahres angesetzt. Präsidial- und Parlamentswahlen sollen ihnen 2019 folgen.
Die bevorstehenden Wahlen haben schon heute zu Erklärungen des Staatschefs geführt, nach denen „von jetzt an“ die beiden im Parlament zusammenwirkenden Rivalenparteien „politische Gegner“ geworden seien.
Fehlendes Verfassungsgericht
Auch die Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichtes führte zu einem ungelösten Streit zwischen den beiden Partnern, so dass dieses Gericht bisher nicht eingesetzt werden konnte. Die Verfassung fordert dieses Gericht zur Garantierung der Grundrechte, und im Fall einer Absetzung des Präsidenten wegen Verfassungsbruchs würde es zusammen mit dem Parlament die entscheidende Rolle spielen.
Das Versöhnungsgesetz ist halb durchgebracht
Das Seilziehen um das umstrittene Versöhnungsgesetz endete damit, dass die Belange der als korrupt geltenden Wirtschaftskapitäne von jenen der ebenso angeklagten Spitzenbeamten aus der Zeit des Diktators getrennt wurden. Die Beamten erhielten Straffreiheit und Wiedereinstellung, wenn sie nachweisen konnten, dass sie auf Befehl von oben gehandelt hatten. Was den meisten angesichts des Systems, das von Ben Ali voll abhängig war, nicht schwerfallen dürfte.
Die wirtschaftlichen Profiteure sollen Amnestie erhalten, wenn sie die durch Korruption erlangten Gelder zurückzahlen. Das Versöhnungsgesetz für die Beamten wurde schliesslich durchs Parlament gebracht. Dasjenige für die reichen Profiteure ist noch nicht genehmigt. Wenn es durchgeht, kann man erwarten, dass die Beamten aus der Zeit Ben Alis sich mit den Geschäftsleuten aus der Zeit des Diktators darüber verständigen, wieviel – oder wie wenig – die Geschäftsleute in die Staatskasse einzahlen müssen. Zyniker vermuten, dass ein Teil der Gelder an die Beamten gehen wird, um zu bewirken, dass sie mithelfen, die Summen gering zu beziffern, die der Staat zu erhalten hätte.
Die schwache Position von an-Nahda
An-Nahda zeigte sich, nach Widerstandsversuchen, letztlich bereit, den Staatschef und seine Partei zu unterstützen, um einen Bruch der Zusammenarbeit zu vermeiden. Isolation wäre in der Tat für an-Nahda gefährlich, wegen des internationalen und innerislamischen sowie innerarabischen Umfelds, das die Islamisten aller Färbungen gegenwärtig belastet, weil sie alle im Schatten des „Kriegs gegen den Terrorismus“ stehen.
Konkret heisst dies für an-Nahda, dass ihre Feinde und Gegner im Ausland und im arabischen Umfeld alles tun, was sie können, um sie gleichzusetzen mit den gewalttätigen Islamisten im Stil von IS und al-Kaida, die auch in Tunesien zu wirken suchen und Blut vergossen haben. Die inneren Diskussionen über die Rolle des Islams in der nun als sekular erklärten islamischen Partei, beanspruchten begreiflicherweise viel Energie für die Parteiführung.
Das „duale Machtmonopol“
Eine Praxis spielte sich ein, nach der die beiden betagten Hauptpolitiker, Ghannouchi und Essibsi, einander unter vier Augen treffen, um Kompromisse festzulegen und gemeinsame Strategien abzusprechen, die dann von ihren Parteien im Parlament befolgt werden. Die Beobachter sprechen von einem „dualen Machtmonopol“, das die Rolle des Parlaments untergrabe. Nach der Verfassung sollte der Präsident „parteilos“ sein. Essebsi umging diese Bestimmung, indem er aus der von ihm gegründeten Partei zurücktrat und seinem Sohn, Hafed Essebsi, offiziell die Leitung von Nidaa Tunes überliess.
Streit über die Vollmachten der Polizei
Neben dem Versöhnungsgesetz haben an-Nida und der Präsident – ebenfalls gegen heftigen Widerstand – ein zweites Gesetz vorgelegt, das die Rückkehr zu den Zeiten Ben Alis begünstigt. Dies ist das Gesetz zum „Schutz der Sicherheitskräfte“. Es wurde zuerst 2015 nach dem grossen Terroranschlag durch radikale Islamisten gegen das Bardo-Museum vorgeschlagen, der 23 Personen das Leben kostete. Es würde der Polizei wieder grössere Freiheit bei der Anwendung von Schusswaffen gewähren, und es enthält auch eine Vorschrift, welche die „Denigration der Polizei“ strafbar macht.
Sogar Informationen über die Aktivitäten der Polizisten können strafbar werden. Dabei muss man in Rechnung stellen, dass in Tunesien nach wie vor die gleichen Polizisten wirken, die zur Zeit Ben Alis mit der Niederhaltung der Bevölkerung unter Anwendung von grausamen Foltermethoden und unappetitlichen Verleumdungskampagnen betraut waren. Die Menschenrechtsorganisationen versichern, Folter in Polizeigewahrsam komme auch heute noch vor. Die Einstellung von neuem Personal ist nach dem soeben gültig gewordenen Finanzgesetz, wie oben erwähnt, für das gegenwärtige Jahr nicht möglich.
Auch dieses Gesetzesprojekt zum „Schutz der Sicherheitskräfte“ ist auf heftigen Widerstand gestossen, heftiger jedoch auf der Strasse als im Parlament aus den oben erklärten Gründen. Es wurde 2015 vom Parlament zurückgewiesen. Doch im vergangenen Sommer hat das Innenministerium es erneut vorgelegt. Die Polizeigewerkschaft hat sogar gedroht, die Polizei werde das Parlament nicht mehr bewachen, wenn das Gesetz abgelehnt werde. Die endgültige Abstimmung darüber steht noch bevor.
Enttäuschung und Ungeduld
Dies sind Beispiele für die politischen Dysfunktionen des nach wie vor unvollständigen Übergangs zur Demokratie in Tunesien, die man kennen muss, wenn man verstehen will, wie es zu einer gewissen Vernachlässigung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme kam und warum die gegenwärtigen überwiegend jugendlichen Aktivisten und Demonstranten erklären, sie hätten alle Hoffnung auf Besserung ihrer Lage durch die Politiker aufgegeben: „Worauf warten wir noch?“