Hedy und Arthur Hahnloser stehen mit ihrer Leidenschaft des Kunstsammelns im damaligen schweizerischen Grossbürgertum nicht allein. Dennoch ist ihr Wirken ziemlich einmalig. Zwar gehörten sie mit ihren begrenzten finanziellen Ressourcen bei weitem nicht zu den Schwergewichten der Sammlergilde. Da spielten die ebenfalls in Winterthur ansässigen Brüder Reinhart oder das Ehepaar Brown in Baden in einer ganz anderen Liga. Was das Sammlerpaar Hedy Hahnloser-Bühler (1873–1952) und Arthur Hahnloser (1870–1936) so besonders macht, ist das kämpferische Engagement für die Avantgarden am Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie suchten ein intellektuelles Verständnis der neuartigen Kunst. „Vivre notre temps!“ – so hiess ihre Devise als Sammler. Die Villa Flora war folgerichtig sowohl Treffpunkt von Künstlern und Kunstenthusiasten als auch in zunehmendem Mass ein Haus voller anspruchsvoller Kunstschätze. Damals reichten überschaubare Mittel, um sie zu beschaffen und zwei brave Hunde, um sie zu bewachen.
Dienstäglicher Revolutionskaffee
Die junge Hedy Bühler hätte wohl gern ein Hochschulstudium angetreten, doch das erlaubten die rigiden Rollenvorstellungen ihrer Eltern nicht. Für eine Tochter ihres Standes gehörte sich einzig die Vorbereitung auf Ehe- und Repräsentationspflichten nach den Regeln der obersten Gesellschaftsschicht. Was der Vater gerade noch tolerierte, war eine kunstgewerbliche Ausbildung. Nicht akzeptiert wurde eine Ehe der Protestantin mit dem Katholiken, den sie als 18-Jährige kennenlernte. So galt es zu warten. Erst nach dem Tod des Gatten gab Hedys Mutter nach, und die 25-Jährige konnte endlich den Augenarzt Arthur Hahnloser heiraten. Das Paar bezog die Villa Flora, einen grossbürgerlichen, aber durchaus nicht mondänen Wohnsitz.
Hedy und ihr Cousin Richard Bühler hingen als junge Leute der Lebensreformbewegung des Fin-de-siècle an, welche der Industrialisierung ein auf Handwerk, Ganzheit und Natürlichkeit beruhendes Ideal entgegenzusetzen suchte. Bald schon erweiterte sich das Interesse auf die modernen Aufbrüche der Kunst. Ab 1905 traf sich in der Flora jeden Dienstagnachmittag ein handverlesener Kreis, um beim „Revolutionskaffee“ über die in der Öffentlichkeit übel beleumdete moderne Malerei zu diskutieren. Man verfolgte das Ziel, dieser Kunst zu Beachtung, Verständnis und Anerkennung zu verhelfen.
Zu jener Zeit begann die Sammlertätigkeit der Hahnlosers. Ihr erstes Bild war ein Selbstporträt Giovanni Giacomettis. Sie waren ins Bergell gereist, um den Maler in seinem Atelier in Stampa zu treffen. Auch mit Ferdinand Hodler nahmen sie in dieser Weise Kontakt auf. Sie kauften bei ihm Bilder, die noch nicht einmal fertig waren. Nun war die Sammelleidenschaft geweckt.
Bilder mit Sprengkraft
Der Winterthurer Maler Carl Montag, befreundet mit vielen Pariser Künstlern, verstand es, den zunächst einzig an Giacometti, Hodler, Amiet und Vallotton interessierten Flora-Kreis für die französischen Impressionisten, Post-Impressionisten, Nabis und Fauves zu begeistern. Montag vermittelte den Hahnlosers Zugänge zu Monet, Renoir, Rodin, Manguin, Roussel, Matisse, Bonnard, Vuillard, Marquet. Die intensivste Beziehung war die zu Félix Vallotton, der als Lausanner zum Pariser geworden war und auch die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Er wurde zu dem mit Vorliebe gesammelten Künstler. Mit ihm pflegte Hedy Hahnloser einen regen Briefwechsel, und über ihn verfasste sie auch die zum Standardwerk gewordene Monographie „Félix Vallotton et ses amis“ (1937).
Welche Sprengkraft damals in den Bildern eines Vallotton steckte, macht der Skandal um den 1907 von Hedy und Arthur Hahnloser erworbenen Frauenakt „Baigneuse de face“ deutlich. Das Bild musste aus dem für Besucher zugänglichen Bereich der Flora in die oberen Stockwerke verbannt werden, weil es in seiner Anstössigkeit nicht zumutbar war. Die „Baigneuse“ steht bis über die Knie im Wasser und ist dem Betrachter in naturalistisch gemalter Nacktheit schutzlos zugewandt. Im übrigen ist das Bild leer: Es gibt nur ein Blau des Wassers, eine Horizontlinie und ein Blau des Himmels. Leer ist es auch an Bedeutungen. Die Nackte ist in keinen mythischen oder narrativen Vorwand gehüllt, sie ist weder idealisiert noch typisiert. Sie steht einfach da in ihrer individuellen Körperlichkeit. Das war ein Bruch mit allen Konventionen, ein Affront gegen Sitte und Geschmack. Ganz Winterthur wusste anscheinend von dem Bild und empörte sich.
Sich für Vallotton in der Weise zu engagieren, wie es Hedy Hahnloser tat, verlangte bis zu dessen Tod 1925 noch einiges an Zivilcourage. Als das Künstlerhaus Zürich, der Vorgängerbau des Kunsthauses, im Jahr 1909 die erste Einzelausstellung Vallottons vorbereitete, bekam die Museumsleitung im letzten Moment kalte Füsse. Man hatte eben den Skandal einer Hodler-Ausstellung überstanden, in der das Gemälde eines nackten Paars beim Liebesspiel für Entrüstung gesorgt hatte. Von Vallottons unbeschönigten Akten befürchtete die Museumsleitung noch Schlimmeres und wollte die Ausstellung verschieben. Hedy Hahnloser machte sich zur Fürsprecherin des verpönten Malers. Mit Erfolg: Die Ausstellung eröffnete wie vorgesehen im Mai 1909, und als im Jahr darauf das neue Zürcher Kunsthaus eingeweiht wurde, zeigte die Eröffnungsausstellung erneut Werke von Vallotton.
Palastrevolution in Winterthur
Bei den Kämpfen um die moderne Kunst ging es jedoch beileibe nicht nur um Prüderie. Anstössig war vielmehr die neue Freiheit im Umgang mit kanonisierten Bildbedeutungen und Darstellungskonventionen. Die Kunst wurde autonom in dem Sinn, dass die Bilder sich ihre eigenen Regeln gaben. Figuren, Formen und Farben dienten keinen vorgegebenen Zwecken des Darstellens, sondern hatten ihre ästhetische Gültigkeit und ihren Sinn rein in sich selbst. Wenn der Flora-Kreis sich zum Revolutionskaffee traf, so war diese Bezeichnung nur vordergründig ironisch. Die Beteiligten waren sich völlig im Klaren, dass in der Kunst ihrer Tage Revolutionäres geschah und dass sie aktiv daran teilhatten.
Diesem Umbruch galt es auch in den Institutionen des Kulturlebens Nachachtung zu verschaffen. Für den Flora-Kreis ging es dabei primär um den Kunstverein Winterthur. Das verknöcherte Gremium aufzumischen, war erklärtes Ziel. 1907 war es soweit: Mittels einer von langer Hand eingefädelten „Palastrevolution“ wurde im Vorstand des Kunstvereins eine Mehrheit von Aufgeschlossenen installiert, die in der Folge einen rasanten Kurswechsel sowie einen kühnen Museumsneubau in die Wege leitete. 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, eröffnete die damals erst 25’000 Einwohner zählende Industriestadt das stolzeste Kunstmuseum des Landes.
Konkurrierende Sammler-Clans
Das neue Museum in Winterthur wäre nicht entstanden ohne die äusserst lebhafte Kunstsammlertätigkeit in der Stadt. Neben dem Flora-Kreis mit Hedy und Arthur Hahnloser sowie Richard Bühler begannen etwa zeitgleich auch die Brüder Georg und Oskar Reinhart Kunst zu sammeln und zu fördern. Beide Gespanne waren je mit weiteren Sammlerpersonen und -familien verbunden und bildeten um die Knotenpunkte Hahnloser-Bühler und Reinhart zwei konkurrierende Netzwerke.
Die Konstellation hätte für die Kunststadt Winterthur nicht besser sein können, da die Sammler-Clans nur teilweise sich überschneidende Interessen verfolgten (Hahnloser-Bühler liessen die deutschschweizerische und deutsche Kunst ausser Acht, die Reinharts interessierten sich wenig für die Nabis und Fauves). Um so mehr aber wetteiferten sie darin, ihren Künstlern öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, indem sie dem Kunstmuseum der Stadt laufend Bilder schenkten oder liehen. Die 1910er-Jahre beschieden Winterthur in der bildenden Kunst eine Blüte und Ausstrahlung sondergleichen und sind in die Annalen der Schweizer Kunstgeschichte als Winterthurs glorioses Jahrzehnt eingegangen.
Die Sammlung Hahnloser wuchs in den Jahren 1907 bis 1936 in der Villa Flora zu einem der bedeutendsten Konvolute der Klassischen Moderne heran. Sie ging 1980 grossenteils in die von den Nachkommen gegründete Hahnloser/Jaeggli Stiftung über, die rund 300 Werke umfasst. Von 1995 bis 2014 zeigte die Stiftung ihre eminente Sammlung in Wechselausstellungen in der renovierten Villa Flora. Indem deren Charakter eines privaten Haushalts von Kunstenthusiasten erhalten blieb, wurde die Flora zum zauberhaftesten Museum weit und breit.
Die in finanziellen Nöten steckende Stadt tat sich lange Zeit schwer mit ihrem Reichtum an Kunstmuseen. Neben der von der Eidgenossenschaft getragenen Sammlung am Römerholz (Nachlass Oskar Reinharts mit den Schwerpunkten Mittelalter und französische Moderne) steht in Winterthur ein weiteres Reinhart-Museum: das „Museum Oskar Reinhart“ genannte Haus am Stadtgarten mit hochkarätiger Malerei der Deutschschweiz und Deutschlands aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zusammen mit dem im gloriosen Jahrzehnt begründeten Kunstmuseum Winterthur und der Villa Flora bildet es das städtische Dreigestirn, das mit dem Römerholz, einer Institution von Weltrang, wetteifern kann. Ob die Stadt ihr jüngstes Geschenk, die Flora, weiterhin mitfinanzieren könne und wolle, liess sie sträflich lange im Unklaren. Das Hahnloser-Haus jedenfalls musste 2014 in völliger Ungewissheit schliessen – und sein Bilderschatz ging erst mal für drei Jahre auf internationale Tournee.
Bern greift dankbar zu
Kein Wunder, hat das Kunstmuseum Bern die Chance gepackt, sich die Sammlung Hahnloser nach ihrer Rückkehr auf unbestimmte Zeit als Dauerleihgabe zu angeln. Aus der Sicht der Hahnloser/Jaeggli Stiftung ist das eine passable Notlösung. Für Bern bedeutet sie einen enormen Gewinn, gewiss den viel grösseren als die Sammlung Gurlitt. Das Berner Kunstmuseum ist in der Tat der Profiteur einer bis vor kurzem wackligen Politik, mit der Winterthur die Existenz der Villa Flora aufs Spiel gesetzt hat.
Erst am 22. Mai nämlich konnte das Stadtparlament das Drei-Häuser-Konzept des Winterthurer Stadtrats bewilligen, nachdem dieser seine kulturpolitische Unentschlossenheit endlich hinter sich gelassen hatte. Trotz dieser Weichenstellung sind wohl noch nicht alle Klippen beseitigt, und einen verbindlichen Termin für die Wiedereröffnung der Flora gibt es bis jetzt auch nicht. Jedenfalls scheint man in Bern die Hoffnung noch nicht begraben zu haben, die Flora könnte trotz allem vom erzwungenen Sparen versenkt werden und das Hahnloser-Erbe schliesslich dauerhaft ans Kunstmuseum Bern fallen.
Den Winterthurern sollte das eine Warnung sein. Wenn sie die Neueröffnung der Flora nicht zügig hinbekommen, geht das feinste aller kleinen Museen vergessen und verloren. Es wäre ein Jammer. Die Hahnloser-Bilder sind im Berner Exil zwar wenigstens zu sehen, aber sie sind dort klar am falschen Ort. Die wenig inspirierenden Räume im Altbau des Kunstmuseums Bern sind merklich nicht ihr Zuhause. Sie gehören in die Flora. Schafft es Winterthur, sich mit den organisatorisch neu aufgestellten drei Museen im Verbund mit Römerholz und Fotomuseum/Fotostiftung als Stadt der Visual Arts zu profilieren, so brechen vielleicht neue gloriose Jahrzehnte an.
Kunstmuseum Bern: Van Gogh bis Cézanne, Bonnard bis Matisse – Die Sammlung Hahnloser, bis 11. März 2018
Katalog: Die Sehnsucht lässt alle Dinge blühen ... Van Gogh bis Cézanne, Bonnard bis Matisse – Die Sammlung Hahnloser, mit Texten von Matthias Frehner u. a., Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2017, 255 S., CHF 39.00.