Handelt es sich bei dieser Nationalfonds-Studie um eine Verharmlosung des Phänomens? Die fast gleichzeitig erschienene JAMES-Studie 2012 zur Mediennutzung schweizerischer Jugendlicher kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
Ein Fünftel hat schon schlechte Erfahrungen gemacht
Die JAMES-Studie beziffert den Anteil jener Jugendlichen, die angeben, einmal im Internet fertiggemacht worden zu sein, 17 Prozent, was sich seit 2010 nicht verändert habe. Zudem sind gegenüber 2010 deutlich weniger Jugendliche von der Verbreitung beleidigender Inhalte im Internet betroffen.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass das subjektive Empfinden, was eine ernsthafte oder ans Mobbing grenzende Beleidigung sei, sehr unterschiedlich ist. So kann sich im Chat oder bei E-Mails schnell eine Eskalation im Tonfall ergeben – doch das muss nicht von allen als gleichermassen gravierend empfunden werden. Was für manche schon verletzend und beleidigend ist, das stecken andere noch locker weg. Schwierig ist für Betroffene auch die anonyme Kommunikationssituation, die nicht nur unnötig harsche Reaktionen (sog. «Flaming») provoziert, sondern auch die Einordnung des Geschehens erschwert, da man ja sein Gegenüber nicht physisch vor sich sieht und einschätzen kann.
Lebensstile verändern sich
Was bei den Diskussionen um die Gefahren des Internets zu wenig berücksichtigt wird: Viele dieser neuen Medien wie Facebook oder Twitter sind kaum zehn Jahre alt. Da haben sich verlässliche Routinen und Kommunikationsregeln noch kaum herauskristallisiert. So ist man oft sehr unsicher, wie man sich richtig verhält und welches Grenzen oder «No-Go-Verhaltensweisen» sind. Man weiss, dass Medien den eigenen Lebensstil verändern, sieht aber noch keinen digitalen Lebensstil, der klare Verhaltensregeln angibt.
Dies gilt nicht allein für Cybermobbing, sondern für viele anderen Bereiche des digitalen Lebens: Ist es angebracht, seinen Freundinnen und Freunden formlos über eine Facebook-Nachricht zu gratulieren. Darf man eine Beziehung mit einem SMS abbrechen? Soll man auf eine etwas unglücklich formulierte E-Mail noch einen draufsetzen und beleidigt reagieren? Soll man Bücher online shoppen, obwohl man weiss, dass der lokale Buchladen ums Überleben kämpft?
Mit Kindern und Jugendlichen sollten solche Fragen thematisiert werden, anstatt immer nur vor den Gefahren des Internets zu warnen. Vieles von den Warnungen ist in den letzten Jahren bereits angekommen, so dass es nicht immer nochmals wiederholt werden muss. So zeigt die JAMES–Studie 2012, dass 84 Prozent der Befragten mittlerweile die Privatsphäre-Einstellungen auf Facebook aktiviert haben und nicht mehr wahllos alles öffentlich machen.
Die zwiespältige Transparenz des Netzes
Viel schwieriger zu beantworten ist die Frage, wie die Gratwanderung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter zu bewältigen ist. Denn einerseits möchte man sich ja in der Öffentlichkeit des Internets präsentieren und sich nicht bis zur Unkenntlichkeit anonymisieren. Da wird dann möglicherweise mehr an die Öffentlichkeit getragen, als dies in früheren Generationen üblich und akzeptiert war.
Zudem muss man auch erkennen, dass es immer häufiger nicht allein um interessante Gegenstände und Erfahrungen geht, wenn zum Beispiel auf Facebook der Like-Button gedrückt wird. Denn die Transparenz des Internets ist nicht uneigennützig, sondern mit kommerziellen Interessen verbunden.
Alte Probleme im neuen Gewand
So reicht es in Zukunft nicht aus, Medienerziehung aus einer Jugendschutz-Perspektive zu betreiben. Vielmehr braucht es eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem immer stärker durch Medien geprägten Alltag. Die digitalen Lebensstile und Gewohnheiten müssen daraufhin abgeklopft werden, wo sie den Alltag bereichern und wo nicht. Und es muss auch klar werden, wo alte Probleme sich mit dem Internet nur in einem neuen Gewand zeigen.
Dies zeigt die Einschätzung der Nationalfonds-Forscher/innen, wonach Mobbing kein abgegrenztes Internet-Phänomen sei und es keine spezielle Prävention gegen Cybermobbing brauche. Das Fazit der Forscher: Die klassische Antimobbing-Prävention muss sich lediglich erweitern, indem sie auch die digitale Sphäre einbezieht.