An diesem Sonntag wählen die Libanesinnen und Libanesen ein neues Parlament. Die Amtsdauer der bisherigen Parlamentarier war mehrmals verlängert worden. Weil sich die Politiker gegenseitig blockierten, hatte das Land eine Zeit lang keine Regierung und während 29 Monaten keinen Präsidenten.
Zwei Blöcke blockierten sich:
- Auf der einen Seite der schiitische Hizbullah mit seiner pro-iranischen und pro-Asad-Orientierung und einigen verbündeten Christen.
- Auf der andern Seite die sunnitische sogenannte „Zukunfts-Partei“ mit ihren christlichen Verbündeten, die eine pro-westliche und pro-saudische Politik anstrebt.
Eine Art Proporz
In den neuen Jahren ohne Wahlen gab es reichlich Zeit, um ein neues Wahlsystem zu diskutieren und auszuarbeiten. Im Juni letzten Jahres wurde es verabschiedet und sieht eine Art Proporzsystem vor. Danach werden die Kandidaten nicht mehr wie bisher vor allem aufgrund ihrer Persönlichkeit, sondern aufgrund ihrer politischen Ideen und ihrer Haltung zu Sachfragen gewählt. Davon versprechen sich die Politiker aller Richtungen neues Blut in den politischen Adern des Landes.
Allerdings musste auch im neuen System der libanesische Religionsproporz eingehalten werden. Ins Parlament müssen Abgeordnete gewählt werden, deren Zahl der Grösse der verschiedenen Religionsgemeinschaften im Lande entspricht, so dass eine jede von ihnen sich entsprechend ihres Bevölkerungsanteils vertreten sieht. Dazu kamen Bedenken und Vorbehalte der amtierenden Politiker, die nach dem alten System gewählt worden waren und die ihre Wahlchancen nicht aufgeben wollten.
Das komplizierteste Wahlsystem
So entstand schliesslich das komplizierteste Wahlsystem, das es in Libanon je gegeben hat. Gewählt werden 128 Parlamentarier. Die Hälfte sind Muslime, die andere Hälfte Christen. Als Muslime zählen die Schiiten, die Sunniten, die Drusen, die Alawiten. Als Christen die Orthodoxen, die Maroniten, die römischen Katholiken, die Armenier und einige Protestanten. Auch diese Untergruppen müssen ihren Mitgliederzahlen entsprechend vertreten sein.
77 Listen wurden eingereicht. Die Wähler wählen neben den Listen auch einen persönlichen Kandidaten unter den 583 Personen, die als individuelle Kandidaten angetreten sind. Dieser persönliche Kandidat muss aus dem „engeren Wahlkreis“ des Wählers stammen. Die 15 Wahldistrikte sind zu diesem Zweck in 27 Unterdistrikte eingeteilt.
Die Auszählung der Stimmen erfolgt sodann nach höchst komplizierten Regeln. Um sie aufzuzeigen, würde dies lange Erklärungen benötigen. Die Komplikationen sind dadurch gegeben, dass der Religionsproporz immer bewahrt werden muss. Gleichzeitig entscheidet die Stimmenzahl, die jede der 77 Listen erhalten hat, über Sieg oder Niederlage der einzelnen Kandidaten. Man hat zu erwarten, dass die Auszählung geraume Zeit beanspruchen wird. Man kann nur hoffen, dass sie auch wirklich den überaus komplizierten Reglen gemäss durchgeführt werden kann. Dass die Wähler das Vorgehen bei der Auszählung verstehen, kann man nicht erwarten.
Nur reiche Abgeordnete?
Das Wahlgesetz brachte noch andere Neuerungen. Die Stimmzettel wurden nicht mehr wie bisher von den Kandidaten gedruckt und verteilt, sondern vom Innenministerium. Um auf einer der Listen erscheinen zu können, musste die hohe Gebühr von 5'300 Dollar bezahlt werden. Für Wahlpropaganda waren keine Grenzen gesetzt. Einzelne Kandidaten erklärten, sie würden bis zu einer Million Dollar einsetzen. Das sah man auch im Strassenbild. An jeder verfügbaren Wand kleben Wahlplakate. Schnell wurde geklagt, dass es sich nur Reiche leisten können, Abgeordnete zu werden.
Die politische Klasse Libanons besteht in der Tat aus Sprösslingen reicher und einflussreicher Familien. Diese sahen sich veranlasst, untereinander Bündnisse zu schliessen. Gemeinsam stellten sie Listen auf, die erfolgsversprechend sind. So war es vorgekommen, dass Kandidaten verschiedener politischer Richtungen gemeinsam eine Liste aufstellten, weil sie dieser – aufgrund der spezifischen Konstellation in ihrem Wahlkreis – am meisten Chancen einräumen. Damit geht es eben dann doch bei der Wahl um Personen und nicht – wie es das neue Wahlgesetz möchte – um die Sache.
Die Stimmen der Erstwähler
In den neun Jahren, in denen nicht gewählt wurde, haben gegen 800’000 Libanesen das Wahlrecht erhalten und gehen nun zum ersten Mal wählen. Die Gesamtzahl der Wahlberechtigten beträgt 3,6 Millionen.
Wegen des hohen Anteils der Neuwähler hoffen einige Aktivisten, den bisherigen Politbetrieb aufbrechen zu können. Sie haben sogenannte „Bürgerlisten“ aufgestellt, die sich vor allem an die Jungen richten. Mit diesen Listen wenden sie sich gegen die alteingesessenen und wohlhabenden Berufs- und Routinepolitiker. Die Bürgerlisten versprechen eine effizientere Verwaltung, um das Land aus seinen vielfältigen Krisen zu führen.
Angegangen muss das Flüchtlingsproblem. Im Land leben 1,5 Millionen syrischer Flüchtlinge, die schlecht versorgt sind. Weitere Krisenherde, die das neue Parlament beschäftigen muss, sind: Finanzielle Probleme, die Staatsverschuldung, Budgetdefizit, Sicherheitsfragen, die Korruption und – nicht zuletzt – Elektrizitätsengpässe sowie die nicht funktionierende Abfallentsorgung.
Weil sich die beiden bisher dominierenden Blöcke gegenseitig lähmten, konnten dringende Probleme nicht angegangen werden. Eine schnelle Lösung der dringendsten Fragen wird nicht erwartet.
Rückkehr der Polit-Stars?
Pessimisten erwarten, dass die politischen Stars, die sich auf den Listen zusammengefunden haben, um ihre Wahl sicherzustellen, als Abgeordnete wieder ihre bisherigen Positionen beziehen und sich erneut feindlich gegenüberstehen.
Bisher ging es in der libanesischen Politikk vor allem um Richtungskämpfe zwischen den beiden Polen der arabischen Politik – grob gesagt um die Frage: Pro-Iran oder Pro-Saudi-Arabien.
Optimisten hoffen nun, dass genügend junges und frisches Blut in das Parlament einfliessen wird, um eine Sachpolitik zugunsten des Landes zu ermöglichen.