Dank Klimastreik und grüner Welle werde in diesem Jahr vielleicht Historisches geschehen, war dieser Tage im «Blick» zu lesen: Zum ersten Mal seit 40 Jahren könnte die Wahlbeteiligung auf über 50 Prozent steigen. Eine schöne Perspektive. Tatsächlich sind bei den letzten beiden Parlamentswahlen von 2011 und 2015 nur 48,5 Prozent aller Stimmberechtigten an die Urne gegangen. In den 1950er Jahren lag die Beteiligung noch regelmässig bei über 70 Prozent – aber damals waren ja die Frauen noch nicht stimmberechtigt.
Zufriedene, Frustrierte, Gleichgültige
In Deutschland und in Österreich nimmt jeweils ein deutlich grösserer Anteil von über 70 Prozent der Stimmberechtigten an den nationalen Parlamentswahlen teil. Sind die Schweizer also schlechtere oder zumindest faulere Demokraten als in diesen Nachbarländern?
Lassen wir diesen Punkt einmal offen. Aber von Interesse bleibt doch die Frage, weshalb in einer der ältesten und stabilsten Demokratien der Welt sich bestenfalls die Hälfte der Stimmbürger an der Wahl eines neuen Parlaments beteiligt. Der Historiker Jakob Tanner schreibt in einer Kolumne im «Tagesanzeiger-Magazin», es sei absolut ungeklärt, ob die Mehrheit der Nicht-Wähler nicht zur Urne gehe, weil sie mit den Verhältnissen im Land einigermassen zufrieden sind oder ob sie gerade aus Frust und Resignation über diese Verhältnisse vom Stimmrecht keinen Gebrauch machen. Dass zu den Nichtwählern auch eine grössere Gruppe von politisch Gleichgültigen zu zählen ist, erwähnt der Historiker nicht – oder rechnet er sie einfach der Kategorie der Zufriedenen zu?
Wie dem auch sei, überzeugende Argumente, sich um die Wahlen zu foutieren, kann man im Grunde weder dem Segment der Zufriedenen noch dem Spektrum der Frustrierten zubilligen. Den Zufriedenen muss man zurufen, dass ihre Wahlabstinenz durchaus nicht dazu beiträgt, die von ihnen als gut eingeschätzten gesellschaftlichen Verhältnisse auch für die Zukunft zu festigen. Nimmt die Zahl der Nichtwähler markant zu, so schadet das dem Vertrauen und der Stabilität des demokratischen Staates. Wer zufrieden ist und trotzdem nicht wählen geht, lässt sich aller Wahrscheinlichkeit nicht von rationalen Motiven, sondern von der eigenen Bequemlichkeit leiten.
Breite Diversität der Auswahl
Ebenso wenig kohärent ist die Wahlabstinenz der frustrierten und verbitterten Stimmbürger. Wem die politischen Verhältnisse nicht passen, sollte zumindest die bescheidene Möglichkeit einer Mitbestimmung bei der Zusammensetzung des Parlaments (und damit auch längerfristig derjenigen der Regierung) nutzen und seine Stimme für diejenige Parteien oder Kandidaten einlegen, die er am akzeptabelsten findet.
Auswahlmöglichkeiten gibt es weiss Gott genug. Um die 35 Sitze der Zürcher Nationalräte bewerben sich beispielsweise nicht weniger als 32 verschiedene Parteilisten. Unter diesen findet man neben den traditionell etablierten Partien auch so unorthodoxe und radikal alternative Gruppierungen wie «Die Guten», die «Öko-Partei Schweiz» (für die nur ein einziger Bewerber, ein 49-jähriger Jus-Student und Klimaaktivist kandidiert), die «Linke Alternative/Partei der Arbeit» sowie die Liste «Grüne, Migrant*innen und Second@s». Wem dieses Kunterbunt keine genügende politische Diversität bietet, dem ist schwer zu helfen.
Wird die junge Generation vernachlässigt?
Der Gymnasiast Nick Sempach schrieb vor kurzem im «Journal 21» über die bevorstehenden Parlamentswahlen: Das Durchschnittsalter der Nationalräte liege heute bei 52 und das der Ständeräte bei 58 Jahren. Eine ganze Generation von jungen Bürgern werde von der Politik vernachlässigt. Das müsse dringend geändert werden. Diesen jungen Bürgern muss man zurufen: Nur zu, geht an die Urnen, wählt junge Politiker ins Parlament! Schliesslich gibt es eine ganze Menge von Parteilisten, auf denen nur Kandidaten jüngeren Alters kandidieren.
Immerhin sind bei der bevorstehenden eidgenössischen Wahlen 280’000 neue Erstwähler wahlberechtigt. Wenn diese alle in die gleiche Richtung ziehen und konsequent für die Jungparteien stimmen, müsste das doch einen starken Schub zur Parlamentsverjüngung bewirken. Allerdings darf man seine Zweifel haben, ob die jungen Wähler sich am kommenden Wochenende tatsächlich so progressiv, jugendbewegt und klimaaktivistisch entscheiden werden, wie das manche ihrer Lautsprecher und Bannerträger propagieren. Vor vier Jahren sah das Ergebnis laut einer Analyse im «Tagesanzeiger» zur Parlamentswahl 2015 in Sachen Klimakampf noch sehr durchmischt aus: 25 Prozent der damaligen Erstwähler stimmten für die SVP, 22 Prozent für die SP, 17 Prozent für die Freisinnigen und nur 13 Prozent für die Grünen und für die GLP.
«Die Welt brennt, ihr pennt!»
«Die Welt brennt, ihr pennt!», lautet gemäss einer NZZ-Reportage eine beliebte Parole jugendlicher Aktivisten, die sich im Zeichen des Klimawandels für eine radikale Umgestaltung der gesellschaftlichen Prioritäten engagieren. Der Vorwurf richtet sich vor allem an die ältere Generation, die angeblich viele Weichen falsch gestellt hat und nicht bereit ist, das radikal zu korrigieren. Aber muss man in einer einigermassen funktionierenden Demokratie den Vorwurf, politische Umsteuerungen zu verschlafen, nicht auch an die (jungen und alten) Nichtwähler richten?
Sollte die Wahlbeteiligung am 20. Oktober also erstmals seit 1975 tatsächlich wieder über 50 Prozent steigen, so wäre das immerhin ein bescheidenes Zeichen für eine wachsende Einsicht unter den Eidgenossen, dass es für Wahlabstinenz zwar viele Ausreden, aber keine valablen Argumente gibt. Noch ist Zeit, danach zu handeln!