Der britische Historiker Niall Ferguson lebt seit einigen Jahren in Amerika. Er hatte zuerst eine Professur an der Harvard Universität, jetzt arbeitet er am Hoover Institute der Stanford University in Kalifornien. Unter anderem schreibt er an einer monumentalen Kissinger-Biographie, von der bisher der erste Band erschienen ist. Ferguson kommentiert häufig aktuelle Entwicklungen in der Weltpolitik und in den USA.
Noch verrückter?
In einem Artikel im «Boston Globe» beschäftigte er sich im vergangenen Herbst mit der Frage, wie wohl die politische Szenerie heute in Amerika aussehen würde, wenn im November 2016 Hillary Clinton zur Präsidentin gewählt worden wäre. Man erinnert sich: Die demokratische Kandidatin hatte zwar drei Millionen Stimmen mehr bekommen als ihr republikanischer Konkurrent Trump.
Trump war trotzdem der Sieger, weil er nach den geltenden Regeln im Wahlmännergremium (wer am meisten Stimmen in einem Einzelstaat hat, kann alle Wahlmänner des betreffenden Staates für sich buchen) mehr Stimmen einheimste. Hätte Hillary Clinton die drei Staaten Michigan, Pennsylvania and Wisconsin gewonnen (wozu ihr laut Ferguson nur 39’000 Stimmen fehlten) wäre sie ins Weisse Haus eingezogen.
Amerika mache heute zuweilen den Eindruck eines Irrenhauses, schreibt Ferguson, aber er sei nicht sicher, dass es nach einem Sieg Hillary Clintons weniger verrückt zugegangen wäre, «vielleicht sogar noch verrückter». Er ist überzeugt, dass das vom Verlierer Trump für diesem Fall lancierte «Trump TV» zusammen mit dem Sender «Fox News» in einer permanenten Kampagne dem Publikum die Behauptung eingehämmert hätten, die Präsidentschaftswahlen seien zu Ungunsten des republikanischen Kandidaten getürkt (rigged) worden. Wie man sich erinnert, hatte Trump schon während des Wahlkampfes 2016 die Behauptung von den «rigged elections» ins Spiel gebracht – offenkundig als vorsorgliche Erklärung oder Ausrede für eine Niederlage.
Ferguson glaubt, dass die Republikaner, die ja auch bei einer Niederlage Trumps über die Mehrheit in beiden Kongresskammern verfügt hätten, bei einem Wahlsieg Clintons schon im ersten Jahr ihrer Präsidentschaft ein Impeachment-Verfahren eingeleitet hätten.
Allerdings räumt der Historiker ein, dass die Republikaner die für eine Absetzung des Präsidenten notwendige Zweidrittelmehrheit im Senat kaum zustande gebracht hätten. Doch das giftige und langwierige Spektakel um den Impeachment-Prozess zusammen mit dem Dauergetöse über angebliche Wahlfälschungen seitens der Trump-Medien hätte die amerikanische Gesellschaft noch heilloser gespalten, als sie es heute ist, meint der Historiker.
Unmögliche Prognose
Ferguson ist kein Trump-Anhänger, auch wenn er politisch eher konservativen Positionen zuneigt. Aber er macht geltend, dass die Wahl Trumps von Millionen von Wählern in Amerika, die mit dem traditionellen politischen Establishment in ihrem Land zutiefst unzufrieden waren, als eine Art Reinigungsprozess (Katharsis) aufgefasst worden ist. Endlich, so waren und bleiben viele US-Wähler überzeugt, regiert ein Mann im Weissen Haus, der ihre Sorgen, Hoffnungen und ihre Sprache verstehe. Jetzt aber, argumentiert Ferguson, erlebten viele unter den Trump-Wählern jene «langsame, ungemütliche Desillusionierung», die fast immer nach einem populistischen Sieg um sich greife.
Dass ein solcher Ernüchterungsprozess im Lager derjenigen, die 2016 für Trump gestimmt haben, zumindest ansatzweiser in Gang gekommen ist, darauf scheinen die teilweise empfindlichen Verluste der Republikaner bei den Zwischenwahlen im vergangenen Herbst hinzudeuten. Doch eine auch nur halbwegs zuverlässige Prognose, dass der Versuch mit einer vermeintlichen Trump-Katharsis bei der nächsten Präsidentschaftswahl im Herbst 2020 beendet wird, lässt sich daraus gewiss nicht ableiten.