Das Kunstmuseum Luzern hat eine grandiose Form gefunden, sich selbst (200 Jahre Kunstgesellschaft Luzern) und die Wichtigkeit der Malerei beim Aufbruch der Leuchtenstadt in die Moderne zu feiern: Joseph Mallord William Turner (1775–1851) war 1802 erstmals in Luzern, um das Zusammenspiel von See und Bergen, Licht und Wetter zu malen. Turner, ein Erneuerer der Landschaftsmalerei, wurde mit seiner reichen Ausbeute von insgesamt sechs Reisen in die Schweiz nebenbei auch zu einem Promotor des beginnenden Tourismus, welcher im 19. Jahrhundert für die arme Voralpenregion eine wachsende Rolle als Treiber der Wirtschaft spielte. Luzern hat also gute Gründe, sich dankbar an Turner zu erinnern.
Mit seiner grossangelegten und prominent bestückten Werkschau rollt das Kunstmuseum im KKL dem berühmten Briten den roten Teppich aus. Dabei hält es die Balance zwischen dem Fokus auf die für die Schweiz so folgenreiche neue Sicht der Alpenlandschaft auf der einen und der Dokumentierung einer sehr besonderen künstlerischen Entwicklung auf der anderen Seite. Beide Aspekte sind schon für sich genommen spannende und weit ausgreifende Ausstellungsthemen; doch beide stehen auch in engem Bezug zueinander.
Turner, Sohn eines Barbiers und Perückenmachers, wuchs in Covent Garden auf, dem kulturellen Hotspot Londons mit Kunstakademie, Ausstellungen, Theatern. Schon mit vierzehn fand er als Jüngster Aufnahme in die Royal Academy. Der stolze Vater stellte Bilder seines Jungen zum Verkauf ins Schaufenster. Ein unternehmerisches Gen hat denn auch Turners Karriere kräftig vorangebracht. Schon mit 29 Jahren eröffnete er seine eigene Galerie. In der Vermarktung der eigenen Bilder ging Turner zielstrebig und erfolgreich zu Werke, etwa indem er den Interessenten Musterskizzen vorlegte, nach denen sie erst noch auszuführende Bilder bestellen konnten.
Zu seiner Zeit polarisierte Turner mit seinen Farb- und Lichtorgien. Seine Bilder wurden sowohl gefeiert wie von der Kunstkritik niedergeschrieben. Und sie verkauften sich offensichtlich hervorragend; Turner war schon als junger Mann ein sehr vermögender Bürger.
Heute gefallen seine Bilder. Turners kanonische Position ist nicht umstritten. Doch seine Einordnung in der Kunstgeschichte erscheint irritierend unklar. Ist er nun ein Vorläufer der Impressionisten? Oder gar ein Wegbereiter der Abstrakten? Hat da einer den Entwicklungen der Malerei um ein halbes oder vielleicht sogar ganzes Jahrhundert vorgegriffen? Die Diskussionen um die Einordnung vor allem des späten Turner reissen bis heute nicht ab.
Die frappante Nähe zu impressionistischen Malweisen entsteht bei Turner durch einen auf die Spitze getriebenen theatralischen Realismus. Sein Bestreben ist es, auf Leinwand und Papier genauestens festzuhalten, was er in einem bestimmten Moment sieht und wie er es sieht. So gehört zur Darstellung eines Sturms auch der Einbezug der eingeschränkten Wahrnehmung dessen, der diesem Wetter als Beobachter ausgesetzt ist. Jenes analytische Denken, das hinter der impressionistischen Umwälzung der Kunst steht, ist Turner jedoch noch ganz fremd. Er zerlegt das Licht nicht in seine Primärfarben, sondern malt es als dramatisches Phänomen. Landschaft ist für ihn Theater, ein dynamisches, oft genug auch bedrohliches Geschehen, das den Betrachter unmittelbar trifft. Licht und Wahrnehmung sind für Turner nicht – wie für die Impressionisten einige Jahrzehnte nach seinem Tod – Medien der Vermittlung zwischen Aussenwelt und betrachtendem Subjekt. Sie sind Aktion, Drama, Poesie. Und sie reden direkt und unvermittelt zum Betrachter.
Als vielgereister Künstler, der sommers quer durch Europa seine Sujets skizziert und diese winters daheim zu Verkaufsmustern oder fertigen Gemälden verarbeitet, hat Turner eine ganz eigene Methodik der Bildfindung entwickelt. Da er das meiste von seiner Produktion weder ausstellen noch verkaufen will, kann er sich alle Freiheiten des Experimentierens nehmen. Tatsächlich ist beim glücklicherweise umfassend erhaltenen Nachlass bei vielen Stücken unklar, ob es sich um fertige oder unvollendete Bilder handelt, ob etwas als Studie oder Skizze angelegt oder als autorisiertes Werk gedacht ist.
Die experimentierende Arbeitsweise hat Bilder hervorgebracht, die einer abstrakten Auffassung sehr nahekommen und deren Gegenstände völlig hinter Farb- und Lichtphänomenen zurücktreten – obschon sie immer vorhanden sind. In einer Ausstellung von 2011 wurden Spätwerke von Turner, Monet und Twombly vereint, und der kühne Brückenschlag bis hin zum 150 Jahre späteren Amerikaner Cy Twombly erscheint sogar naheliegend: beider Bilder lassen sich lesen als freie Farbkompositionen und expressive Gestik.
Nur eben: Turner so verstehen zu wollen, wäre eine anachronistische Sichtweise. Er hat eben nicht – wie ein Twombly – visuelle Intuitionen in freie Formen und Zeichen umgesetzt, sondern beispielsweise Strand, stürmisches Meer und Wolkenhimmel als Sinneseindruck wiedergegeben. Auch wenn sich einzene von Turners Bildern ohne weiteres in Twomblys Œuvre hineinschmuggeln liessen, so liegen doch Welten zwischen den beiden Malern. Beat Wismer hat mit dem Aufsatz «Atmosphere is my Style» im Ausstellungskatalog höchst aufschlussreiche «Anmerkungen zu Turners Modernität» beigesteuert.
Turner suchte (und fand) auf der einen Seite den Publikums- und Geschäftserfolg und entwickelte hierfür eine raffinierte und hocheffiziente Produktionsmethodik. Auf der anderen Seite war er brennend interessiert an der Anerkennung durch die Fachwelt und an seinem Nachruhm. Diesem Interesse diente sein unablässiges Bemühen, das Theater der Natur in allen Facetten so wiederzugeben, wie der Betrachter es im Augenblick des Geschehens wahrnimmt. Dieser zweifache Antrieb hat ein Werk hervorgebracht, das, obschon ganz seiner Zeit verhaftet, doch weit über diese hinauszuweisen scheint.
Kunstmuseum Luzern: Turner. Das Meer und die Alpen bis 13. Oktober 2019, kuratiert von Direktorin Fanni Fetzer und Beat Wismer in Kooperation mit David Blayney Brown (Tate)
Der Katalog ist bei Hirmer erschienen.
Die Website des Museums bietet ein Digitorial zur Ausstellung an.