Die Frage, ob das Kunst sei, hat hörbar brummend nicht nur der missmutige Besucher im weinroten Pullover gestellt. Protokolle der für Anschaffungen zuständigen Kunstkommission dokumentieren bis 1995 eine jahrzehntelange Uneinigkeit darüber, ob Twombly museumswürdig sei. Die Gegner hätten in seinen Artefakten den Nimbus von Autorität und Bedeutung vermisst und sich von der demonstrativen Flüchtigkeit und Vorläufigkeit irritiert gezeigt. Das referiert Bernhard Mendes Bürgi, Direktor des Kunstmuseums Basel und Kurator der Twombly-Ausstellung, in der lesenswerten Broschüre, die im Museum für Gegenwartskunst kostenlos ausliegt.
Cy Twombly ist in der Kunstwelt heute anerkannt. Seine Bilder hängen in den grossen Museen. Dass seine Werke manche Betrachter dennoch befremden können, liegt an den gleichen Gründen, die seinerzeit die honorige Basler Kunstkommission entzweiten. Dabei hatte dieser Künstler seine Ursprünge in einer Malerei, die seit längerem ziemlich fraglos kanonisiert ist. Twombly begann im Umfeld des Amerikanischen Expressionismus, und diese Herkunft ist bis zu seinen späten Sachen deutlich sichtbar.
Von New York nach Rom
Schon die Lebensstationen umreissen eine Entwicklung: 1928 in Lexington, Virginia, geboren, wirkte Twombly bis in die Fünfzigerjahre vor allem in New York. Unter dem Eindruck von Reisen nach Europa und Nordafrika verlegte er seinen Lebensmittelpunkt 1957 nach Rom, wo er 2011 starb. Die mediterrane Welt mit ihrer Geschichte und ihren Mythen, die Dichtung der Antike wurden zu seinen Inspirationsquellen. Seine Werkgruppe im Museum für Gegenwartskunst beginnt mit einem kleinen dunklen noch in New York entstandenen und ganz dem Amerikanischen Expressionismus zugehörigen Bild. Alle weiteren Exponate stammen aus der Römer Zeit. Sie haben grössere Formate, und sie sind vor allem hell und zeigen eine neue Bildsprache.
Twombly benützt jetzt neben Wand- und Ölfarben stets Bleistift und Kreide, was eine ganz andere Arbeitsweise erlaubt. Einen Pinsel muss der Maler immer wieder absetzen; mit Kreide und Bleistift braucht er den Duktus nicht zu unterbrechen. Diese Möglichkeiten nutzend, mischt Twombly fortan das Malerische mit dem Zeichnerischen und der Schrift. Zudem ist die Arbeit an den grossen Leinwänden ein «körperliches» Malen, in dem sich Bewegungen und Blickrichtungen abbilden.
Das Bild «Arcadia» steht für Twomblys Beschäftigung mit der antiken Literatur und Sagenwelt sowie deren langem Nachwirken in der Geschichte der Malerei. In Vergils Dichtung ist Arkadien die mythische Provinz des glücklichen Landlebens – ein Sehnsuchtort, der in Poesie und bildender Kunst immer neu belebt wurde und die Stereotypen des Ländlichen bis heute in modifizierter und oft versteckter Form alimentiert.
Neue Bildsprache
Dass Entstehungsort und –jahr am oberen Bildrand eingeschrieben sind, unterstreicht die Schlüsselposition des Werks «Arcadia» in Twomblys Schaffen. Er war eben nach Rom umgesiedelt und war daran, die seit kurzem entwickelten Ansätze zu einer unverwechselbaren Bildsprache zu formen. Die grosse Leinwand ist in mehreren Schichten lasiert, woraus ein Malgrund aus hellem Lehmbeige resultiert, der stellenweise ganz leicht ocker bis ziegelrot überstäubt erscheint. Es entsteht der Effekt eines alten Papiers, dessen Beschaffenheit in der Sprache der Antiquare als «leicht gebräunt» bezeichnet wird.
Auf dieser Unterlage breitet sich eine Landschaft von Kritzeln, Zeichen und Farbspritzern aus. Wie Eisenspäne im Magnetfeld fügen sie sich in eine Ordnung von links unten nach rechts oben und damit in die Bewegung einer kursiven Schrift. Das Bild hat die Charakteristik des Geschriebenen, obwohl es mit Ausnahme von Titel und Werkangabe nicht zu entziffern ist.
Doch obwohl man die Zeichen nicht lesen kann, «liest» man das Bild. Die Signale «Arcadia», «Roma» und «1958» erzeugen einen Akkord von kulturellen und biografischen Referenzen. Die helle, in der Breite leicht über das Quadrat hinausgehende Fläche mit den feinen, ungleich verteilten Zeichen strahlt trotz dem fahrigen Strich eine grosse Harmonie und eine heiter-friedliche Stimmung aus – Arkadien eben. Hier nun aber dargestellt nicht in den sozialen Konventionen des Idyllischen, wie es ein Nicolas Poussin mit seinem Gemälde «Die Hirten von Arkadien, et in Arcadia ego» (auf das Twombly sich ausdrücklich bezog) getan hatte, sondern mit einem modernen Repertoire des Fragmentarischen, der Brechung und der Reflexivität. Der Maler greift dabei auf Stoffe und Medien des Überlieferten genauso zurück wie auf das von der Moderne hochgehaltene Prinzip der kreativen Individualität. Beides zu verbinden und daraus ein neuartiges, rätselhaft schönes, vielschichtig deutbares Werk zu erzeugen: das ist Twomblys originäre künstlerische Leistung.
Geschichtete Bilder
Elf Jahre nach «Arcadia» hält Cy Twombly sich bei einem Freund am Lago die Bolsena nördlich von Rom auf. Aus jener ertragreichen Schaffensperiode sticht das hochformatige weisse Bild heraus, dessen mit Bleistiftstrichen schraffiertes kleines «Fenster» die einzige ins Auge springende Form ist. Plaziert ist sie auf der fast leeren Fläche in der Vertikalen deutlich über und in der Horizontalen kaum wahrnehmbar neben der Mitte.
Auf den ersten Blick spürt man es eher, als dass man es bewusst sieht: Die grosse weisse Fläche ist etwas unruhig. Da und dort zeigt sie einige Verwischungen, und sie ist auch nicht ganz weiss. Bei genauer Betrachtung entdeckt man übermalte Bleistiftlinien, ja ein ganzes überdecktes Bild, das man allerdings nur schwach erkennt.
Twombly hat diese Technik immer wieder angewandt. In Anlehnung an ein bei alten Handschriften geläufiges Verfahren bezeichnet man sie als Palimpsest. Weil Pergament als Schreibmaterial kostbar war, wurden vorhandene Texte abgeschabt oder abgewaschen, damit das Trägermaterial von neuem beschrieben werden konnte. So enthalten manche überlieferte Handschriften ältere Texte, die man mit verschiedenen Verfahren wieder sichtbar machen kann. Sie sind oftmals historisch nicht weniger wichtig oder sogar wertvoller als das im Vordergrund Lesbare.
Auch Maler haben oft misslungene Bilder von Leinwänden abgekratzt, die sie dann wiederverwendeten. Der englische Essayist Thomas de Quincey bezeichnete das Palimpsest als Modell des menschlichen Gedächtnisses. In der poststrukturalistischen Literaturtheorie avancierte der Begriff des Palimpsests zum Schlüssel für das Verständnis literarischen Schreibens schlechthin: Bei allem Geschriebenen scheint quasi der Hintergrund der gesamten Literaturgeschichte durch; der Autor ist nicht mehr exklusiver Urheber, sondern nur letztes Glied einer langen Kette.
Auch Twomblys Bilder sind Palimpseste. Was er übermalt und – teils deutlich, teils kaum wahrnehmbar – durchscheinen lässt, sind zwar seine eigenen Spuren. Doch mit dem Prinzip, den Schaffens- und Veränderungsprozess sichtbar stehenzulassen, ergibt sich auch bei ihm eine Relativierung des manifesten Werks. Es war einmal anders, und es hätte sich weiter ändern können. Das «fertige» Bild hält nur einen bestimmten Moment aus einer Entstehungsgeschichte fest; und diese begann lange vor Inangriffnahme des einen bestimmten Bildes, ja sogar lange vor dem Künstlerdasein seines Erschaffers. Twombly stellt seine Produktion bewusst in die Kontinuität der Epochen übergreifenden Entwicklung der Kunst.
Eine Totengabe als Summe der Kunst
Der Römer Galerist Plinio De Martiis war seit den Sechzigerjahren Twomblys Freund und Förderer. 1971 stirbt seine Frau Maria Antonietta Pirandello unerwartet. Cy Twombly widmet ihr fünf Bilder, alle gleich benannt: Nini’s Painting, 1971 (Roma). Eines davon ist im Museum für Gegenwartskunst ausgestellt.
In diesem «Nini’s Painting» verdichtet Twombly seine ab Mitte der Fünfzigerjahre hervorgebrachten Ausdruckmittel zu einem Chef-d-œuvre von stupender Wirkung. Der an hellen, unter der Sonne ausgeglühten Lehm erinnernde Malgrund ist stellenweise mit einem wässrigen Grau übermalt, das in Tränen über das Bild läuft. Mit Kreide und Bleistift ist das mächtige, drei Meter hohe Format annähernd zeilenförmig bedeckt mit schriftartigen schwungvollen Linien. Die Schrift überlagert sich in vielen Schichten, die stufenweise immer dichter übermalt sind und dadurch heller und schwächer erscheinen.
Den Effekt kann man kaum anders als magisch nennen: Die Schichtung gibt dem Bild eine verwirrende Räumlichkeit, wobei es zur Tiefe hin immer heller wird. In der Zeichnung gibt es für einmal nichts Sperriges. Alles fliesst, die «Schrift» ist von einer Eleganz und Ausdruckskraft, wie man sie von Handschriften der vor-mechanischen und vor-elektronischen Zeiten kennt.
Was kann diese wunderbare Schrift bedeuten? Was schreibt man in einer Totengabe? Es muss die Preisung des Lebens dieser Verstorbenen sein. Ein Nachruf, verschlüsselt in einer Manifestation reiner Schönheit.
Museum für Gegenwartskunst Basel: Cy Twombly – Malerei & Skulptur, noch bis 13. März 2016