Es gibt gute Gründe, sich darüber zu freuen, dass dem Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss am vergangenen Wochenende in Darmstadt der prestigeträchtige Georg-Büchner-Literaturpreis überreicht wurde. Bärfuss hat diese Auszeichnung durchaus verdient, nicht nur wegen der Substanz und Eindringlichkeit einiger seiner Romane wie «Hundert Tage» über den Völkermord in Ruanda oder «Koala» über den Selbstmord seines Bruders, sondern auch wegen seines intellektuellen und künstlerischen Aufstiegs aus niederdrückenden Familienverhältnissen.
Ernsthafte Fragen
In seiner Dankesrede in Darmstadt, die in der «Süddeutschen Zeitung» als «furios» bezeichnet wird, findet man denn auch einige Bezüge, die betroffen machen und zur Nachdenklichkeit anregen. Er stellt selbstkritisch die Frage, warum er wohl einen grösseren Teil seiner Schriftsteller-Existenz «mit, durch und auf dem Leid, auf Mord und Totschlag, Folter und Vergewaltigung» errichtet habe. Wie er das eigentlich seinen Kindern, die in Darmstadt anwesend waren, erklären solle? Das sind ernsthafte, den Autor offenbar beunruhigende Fragen, auf die er noch keine Antwort weiss.
Bärfuss erwähnt Büchners Danton-Drama und nennt den französischen Revolutionsführer einen «Schlächter, der nach Rechtfertigung für seine Taten sucht» und sich dabei «auf die Notwehr beruft». Und er stellt die Frage, weshalb es nach dem befreienden Berliner Mauerfall und der Lösung Osteuropas aus dem Klammergriff des Sowjetimperiums möglich gewesen sei, dass nur wenige Jahre später in Sarajewo und auf dem Balkan mordende Heckenschützen unschuldige Menschen zu Tausenden hätten umbringen können.
Dröhnende Hammersätze
Dann aber kommt Bärfuss in seiner Rede auf die Verhältnisse in seinem Gastgeberland Deutschland zu sprechen. Hier stellt er kaum noch Fragen, sondern weiss genau und sehr pauschal, weshalb man sich über bestimmte politische Entwicklungen – gemeint ist unüberhörbar der schnelle Aufstieg der rechtsradikalen AfD – so tiefe Sorgen machen müsse. Es liegt daran, behauptet der Autor, dass in Deutschland «die Nazis und ihr Gedankengut überhaupt nie weggewesen» seien und «dass es so etwas wie eine Entnazifizierung nicht gegeben hat».
Solche dröhnenden Hammersätze mögen in bestimmten Nischen der Öffentlichkeit – von einäugigen Linksideologen bis zu späten Nachbetern der RAF-Terroristen – ungeteilten Applaus finden. Dort wurde und wird die alte Bundesrepublik schon immer als total naziverseucht angeprangert. Und natürlich lässt sich nicht bestreiten, dass es im Nachkriegsdeutschland auch Lücken, Pannen und Versäumnisse bei der sogenannten Vergangenheitsbewältigung gegeben hat.
Aber Bärfuss unterstellt in seiner Rede, dass es eine ernsthafte Aufarbeitung der Verbrechen während des Nazi-Regimes gar nie gegeben habe. Hat der Autor, der in Darmstadt so engagiert gegen das Vergessen anredete, selber vergessen, welche Bemühungen in der westdeutschen Öffentlichkeit während Jahrzehnten unternommen wurden, um das Wissen, die Erinnerung die Schuld und die Lehren aus der Nazi-Epoche wachzuhalten? Hat Bärfuss die Debatten um Mitscherlichs Buch «Die Unfähigkeit zu trauern», um den aufwühlenden Historikerstreit, den Frankfurter Auschwitz-Prozess, die uferlose Publikationsflut über den Holocaust vergessen oder nicht mitbekommen?
Zuspitzung und Glaubwürdigkeit
In einer Diskussion auf SRF 2 über die Bärfuss-Rede hat die Literaturkritikerin Sieglinde Geisel, die sonst kein kritisches Wort über diesen Auftritt gelten liess, selber darauf hingewiesen, dass ihre eigenen Kinder, die in Deutschland zur Schule gingen, gegen die Überfütterung mit Stoffen zur Vergangenheitsaufarbeitung protestiert oder rebelliert hätten. Andere Eltern haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Aber soll das ein Argument für geschichtsloses Vergessen in Deutschland sein?
Und schliesslich: Hat Lukas Bärfuss vergessen, dass nach der Hitler-Katastrophe vierzig Jahre lang zwei sehr verschiedene deutsche Nachfolgestaaten exisierten? Weiss er nicht, dass die kommunistisch beherrschte DDR im Unterschied zur westdeutschen Bundesrepublik sich von jeder Verantwortung für die Nazi-Verbrechen komplett absolvierte? Ulbricht und Honecker gerierten sich und ihren Mauer-Staat als blütenweisses Antifa-Bollwerk, verloren aber über ihre eigenen Verstrickungen mit dem stalinistischen Terror nie ein selbstkritisches Wort.
Warum geht Bärfuss in seiner Büchnerpreis-Rede auf solche entscheidenden Differenzierungen nicht ein? Warum erwähnt er nicht, dass es hauptsächlich die ostdeutschen Bundesländer sind, in denen die rechtsnationale AfD und offenbar auch die von ihm beklagte Geschichtsvergessenheit Triumphe feiert? Müsste man das nicht erklären? Hat er die Bücher der in der DDR aufgewachsenen Autoren Ines Geipel (jüngster Titel: «Umkämpfte Zone») oder Eugen Ruge («Hotel Metropol», «In Zeiten des abnehmenden Lichts») über die blinden Flecken im ostdeutschen Geschichtsbewusstsein nicht gelesen?
Schriftsteller und andere im Rampenlicht stehende Figuren arbeiten, besonders wenn es um moralische Appelle geht, gern mit rhetorischen Zuspitzungen. Aber man kann solche Zuspitzungen oder Pauschalisierungen auch überdehnen. Das schadet der Glaubwürdigkeit der moralisch gemeinten Botschaft.