In der Schweiz, im bernischen Zimmerwald und Kiental, wurde 1915 und 1916 die Russische Revolution vorbereitet. 100 Jahre nach der Russischen Revolution beschäftigte sich eine vom „Denknetz“ veranstaltete Tagung in Bern mit Fragen wie: Gibt es nach dem Stalinismus noch eine Zukunft für den Sozialismus? Und welche neue historische Herausforderung wartet auf Russlands Linke?
„Kein Verschweigen und kein Schweigen“
Die deutsche Historikerin Bini Adamczak brachte die Problematik der Russischen Revolution aus linker Perspektive mit folgenden Worten auf den Punkt: „Die Archive sind offen. Und dennoch hat keine breite und tiefe Forschung begonnen, zumindest, vor allem nicht von jenen, denen sich die Fragen (wann? und: wo?) am dringlichsten stellen müssten ... Keine Arbeit der Erinnerung jener, deren Erinnerung die zu Erinnernden am dringendsten bedürften.“
Bini Adamczak, die aus gesundheitlichen Gründen verhindert war, an der Tagung teilzunehmen, spricht hier von der Russischen Revolution, welche die Konterrevolution des Stalinismus nicht verhindern konnte. Unter Stalins Terrorherrschaft wurden Millionen ermordet, darunter Hunderttausende von linken Russen. Für Adamczak darf es kein Verschweigen und kein Schweigen geben: „Ein unbedarft fröhliches Fortschreiben der Gegenwart, geschichtsloses Fortfahren in der Geschichte durch jene, die von einem Traum der Zukunft träumen ... der unbelastet von den Albträumen der Vergangenheit bei Null beginnen könnte.“
Warum ist Stalin wieder populär?
Der einzige Gast und Referent aus Russland war der auch im westlichen Ausland bekannte Soziologe Boris Kagarlitzky. Warum, so fragt Kagarlitzky, trauern so viele Russen der Sowjetunion nach? Oder: warum ist Stalin heute im Volk wieder populär? Für den russischen Soziologen liegen die Gründe auf der Hand: „ Nach dem Ende der Sowjetunion wurde der Bevölkerung in den 90er Jahren eine neoliberale Schocktherapie zugemutet, welche die Mehrheit in tiefe Armut stürzte. Von diesem Schock hat sich die russische Bevölkerung bis heute nicht erholt.“
Auch die liberale Opposition, die in den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg ihre Hochburgen hat, biete dem Volk keine Alternative. Eine politische Revolution ohne Veränderungen der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Gesellschaft sind laut Kagarlitzky Wunschträume der gesamten russischen Opposition. Dazu gehörten nicht nur Liberale, sondern auch Vertreter der linken und nationalistischen Flügel.
Die Kommunisten vom Kreml gekauft
Das Dilemma der russischen Opposition zeigt sich am deutlichsten am Beispiel der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF). Zwar hat die KPRF von allen Parteien im Land die am weitesten verbreitete und am tiefsten verankerte Struktur. Die Kommunisten verstehen sich als Oppositionspartei. Aber grosse Massen bewegen die Kommunisten nicht mehr.
Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr wurde die KPRF mit 13 Prozent und 42 Sitzen mit grossem Abstand zweitstärkste Kraft hinter der Kreml-Partei „Einiges Russland“, die dank eines massgeschneiderten Wahlsystems mehr als drei Viertel der Sitze besetzt. Mit anderen Worten: Die KPRF ist Teil des Putin-Regimes geworden. Der Kreml gibt den Kommunisten Geld und lässt sie am Fernsehen auftreten.
Chancen für eine linke Partei?
Dennoch gäbe es Chancen für eine linke Partei. Seit Jahren fallen in Russland die Reallöhne. In kaum einem anderen Land ist die Kluft zwischen wenigen Superreichen und der armen Masse so gross. Armut, steigende Preise und die Angst vor Arbeitslosigkeit nennen die Russen in Umfragen als ihre drückendsten Sorgen. In einer solchen Situation müsste eigentlich eine linke Partei mächtig erstarken und selbstbewusst auftreten.
In Wirklichkeit aber gibt es in Russland keine linke Bewegung. Es existieren nur viele kleine linke Splittergruppen. Dennoch glaubt Kagarlitzky an die Chance einer starken linken Partei. Putins Regime befinde sich in einer Krise, ein Nachfolger für Putin sei nicht in Sicht. Eine neue linke Partei, so glaubt Kagarlitzky, könnte ein Vakuum auffüllen. Im Gegensatz zur übrigen Opposition sei eine linke Partei in der Lage, mit konkreten Vorschlägen auf die Sorgen der Bevölkerung zu reagieren.
Applaus für den umstrittenen Gast
Kagarlitzkys Worte weckten Hoffnungen und Applaus. Dass Kagarlitzkys Einladung an die Denknetz-Tagung in Bern kritische Stimmen hervorgerufen hatte, war kein Thema mehr. Dem Soziologen war vorgeworfen worden, er rechtfertige die Annexion der Krim und fungiere als Zuträger des Putin-Regimes. Jetzt wünschten die Konferenzteilnehmer Boris Kagarlitzky viel Mut für eine schwierige Aufgabe, die der Soziologe so formulierte: „Es ist nicht möglich, sich im Voraus auf eine Revolution vorzubereiten. Man kann nur ihre historische Notwendigkeit begreifen.Und beim Erfassen der Logik der Geschichte die Herausforderung annehmen. Findet Russlands Linke in entscheidenden Momenten politische Entschlusskraft und Mut zum Risiko?“
Die gleiche Frage stellt sich überall, wo Revolutionen und radikale Veränderungen bevorstehen.