Die Bilanz ist dramatisch. Schon vor dem Massaker an den „Charlie Hebdo“ Karikaturisten sind in den letzten acht Jahren allein in den 57 Staaten, die der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) angehören, mehr als 40 Medienschaffende bei der Erfüllung ihrer Arbeit ermordet worden. Hunderte weitere Journalisten, darunter auch Angehörige, wurden Opfer von gewaltsamen Attacken, Folter und Einschüchterungen. Dieser bedenkliche Befund war der Anlass einer Tagung in Belgrad, die von der OSZE zum Thema „Sicherheit und Integrität von Journalisten“ organisiert wurde.
Ausgerechnet in Ländern der OSZE
Von allen Regionen der Welt sei Gewalt gegen Journalisten ausgerechnet im Einzugsgebiet der OSZE am stärksten angestiegen, stellt eine Statistik der OSZE fest. Warum sich die Sicherheitssituation für Journalisten gerade in diesen Ländern so massiv verschlechtert hat, die gemäss den Statuten der OSZE die Presse- und Meinungsfreiheit ganz besonders achten sollten, auf diese Frage gibt die OSZE keine Antwort. In dem von der Medienbeauftragten der OSZE herausgegebenen Handbuch, „Sicherheit von Journalisten“, wird an die Menschenrechtserklärungen der Uno und an die Helsinki-Abkommen erinnert. 47 der 57 OSZE-Länder sind auch Mitglieder des Europarates. Sie haben zusätzlich die europäische Konvention der Menschenrechte ratifiziert.
Verantwortlich für den Schutz von Journalisten sei letztlich der Staat, heisst es im Handbuch der OSZE. In armen Ländern, wo Medienbesitzer nicht einmal über Mittel verfügten, Journalisten mit kugelsicheren Westen auszurüsten oder für sie eine Versicherung abzuschliessen, müsse der Staat solche Ausgaben übernehmen.
So werden Journalisten käuflich
Aber auch der Staat ist oft machtlos. Auf diese widersprüchliche Entwicklung machte die Politologin Snjezana Milivojevic von der Universität Belgrad aufmerksam: „Wir haben immer mehr Gesetze, welche die Medienfreiheit garantieren sollten. Gleichzeitig landen immer mehr Journalisten im Gefängnis, werden attackiert oder ermordet. Wir haben immer mehr Medien, aber immer weniger Meinungsvielfalt und Pluralismus.“ Milivojevic erinnerte auch an Journalisten, die während Monaten keinen Lohn erhielten. Sie könnten sich und ihre Familien nur über die Runde bringen, wenn sie sich von korrupten Bürokraten oder einflussreichen Privatpersonen kaufen liessen.
Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, verführe viele Journalisten zur Selbstzensur. „Die Schere im Kopf ist die wirksamste Zensur“, glaubt Milivojevic. Diese Art von Schutzlosigkeit und fehlender Sicherheit im Journalismus nimmt heute zu, und dies nicht nur auf dem Balkan oder in Osteuropa.
Ukrainisch – russische Anschuldigungen
Die bekannte serbische Wochenzeitung „Politika“ berichtete über die OSZE-Tagung unter dem Titel: „Der ukrainisch-russische Streit ist in Belgrad angekommen“. Die opulenten Säle des ehemaligen jugoslawischen Regierungspalastes in Belgrad waren Schauplatz von Wortgefechten zwischen russischen und ukrainischen Journalisten. Sie sind Berufskollegen, viele kennen sich oft seit Jahren. Heute werfen sie sich Propaganda, Lügen, Misshandlungen und Schlimmeres vor.
Anastasiya Stanko, Reporterin des ukrainischen TV-Senders „Hromadske“ berichtet, wie sie in der Nähe des Flughafens Donezk von prorussischen Separatisten während mehrerer Tage festgehalten worden sei. Anstatt ihr zu helfen, so Stanko, hätten Kollegen des russischen TV-Senders „Life News“ ihre Gefangenschaft zum Thema einer Reportage gemacht.
Zhanna Karpenko, Reporterin des russischen TV-Senders „Live News“, setzte den Ausführungen der ukrainischen Kollegin eigene Erfahrungen entgegen. Sie und ihr Kameramann seien im Januar 2015 von Kräften des ukrainischen „Rechten Sektors“ gefangen gehalten und drangsaliert worden.
Journalisten gezielt ins Visier genommen
Paula Slier, eine gebürtige Südafrikanerin, die für „Russia Today“ aus mehreren Krisengebieten berichtet hat, erzählt in Belgrad, wie viele Bewohner in der Ostukraine Angst gehabt hätten, mit ihr zu sprechen, weil sie von der ukrainischen Armee eingeschüchtert worden seien. In Donezk sei ihr empfohlen worden, die kugelsichere Weste mit der Aufschrift „Press“ nicht anzuziehen, denn Journalisten würden von ukrainischen Soldaten gezielt ins Visier genommen.
Belgrad war Schauplatz eines Massakers an Journalisten, als im April 1999 die Nato den Fernsehturm in Belgrad bombardierte, weil damit die Propagandazentrale von Milosevic zerstört werden sollte. Unter den Trümmern begraben wurden 16 serbische Journalisten. Als Zeichen der Erinnerung legten russische Journalisten während der OSZE-Tagung Blumen an einem Gedenkstein in einem Belgrader Park nieder, der an das Massaker erinnert. - Im Bürgerkrieg in der Ostukraine sind bisher mindestens sieben Medienschaffende getötet worden.
Selbstkritik aus der Ukraine
Oksana Romaniuk leitet das von amerikanischen und europäischen Stiftungen finanzierte ukrainische „Institute of Mass Information“. Das private Medieninstitut veröffentlicht Analysen der Verletzungen von Pressefreiheit in der gesamten Ukraine, also auch in den von Kiew kontrollierten Gebieten. Selbstkritisch meint Romaniuk, es sei gefährlich,wenn die ukrainische Seite im Informationskrieg mit Russland mit Gegenpropaganda zurückschiesse. Romaniuk kritisiert auch das in Kiew eröffnete „Informationsministerium“, das russischen Journalisten die Akkreditierung verweigere. Es sei nicht Aufgabe des Staates sondern der Journalistenverbände, dafür zu sorgen, dass journalistische Standards eingehalten würden.
Wer entscheidet, worüber wie berichtet werden soll oder eben nicht? Wo hört die Meinungsfreiheit auf? Wo beginnt die Propaganda? Und wer ist heute noch Journalist? Verdienen auch Blogger und Bürgerjournalisten besonderen Schutz? Solche Fragen standen in Belgrad im Raum, fanden aber keine Antworten.
„Wir alle wurden zu Verlierern“
Dunja Mijatovic ist Medienbeauftragte der OSZE und versucht, zwischen den Journalistenverbänden in der Ukraine und Russland zu vermitteln. Die Ukraine-Krise erinnert sie an den Konflikt in ihrer Heimat Bosnien- Herzegowina in den 90er Jahren. „Auch damals tobte ein Informationskrieg. Heute wissen wir: Auf der Strecke blieben die Wahrheit und die Meinungsfreiheit. Wir alle wurden zu Verlierern.“