Beim Erlass der gesetzlichen Bestimmungen zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) vor die Entscheidung gestellt, hat der Nationalrat nicht länger die Quadratur des Kreises versucht. Er hat mit klarer Mehrheit erkannt, dass das Freizügigkeits-Abkommen mit der EU (FZA) Vorrang vor dem neuen Art. 121a der Bundesverfassung (BV) hat, und zwar auch gemäss der MEI selber, weshalb diese nur sehr beschränkt umgesetzt werden kann.
Dass der Verfassungsauftrag in Art. 121a BV mit dem beschlossenen „Inlädervorrang light“, wenn überhaupt so nur in geringem Mass, umgesetzt wird, bestreitet niemand. In den Medienberichten kam jedoch praktisch nicht zum Ausdruck, dass die Kommissionssprecher dies in der Debatte – als Folge des Vorrangs des FZA gemäss unserer Bundesverfassung – als gerechtfertigt, ja geboten bezeichneten. Die auflagenstärkste Zeitung der Schweiz sprach gar, ohne sich mit der verfassungsrechtichen Argumentation überhaupt auseinanderzusetzen, weiterhin von einem Verfassungsbruch und zeigte sich zufolge mangelnder Kenntnis unseres Verfassungsrechts verwundert, dass ausgerechnet Nationalrat Kurt Fluri als Verfechter eines Verfassungsgerichts diesen vertrete.
Die verfassungsrechtlichen Entscheidgründe des Nationalrates
Im Vorfeld der Debatte hat der Schreibende auf diesem Portal ausgeführt und belegt, dass und weshalb die Personenfreizügigkeit mit der EU als Völkerrecht gemäss unserer Bundesverfassung dem Art. 121a BV vorgeht und dass die Initianten der MEI dies in ihrer Übergangsbestimmung dazu in Art. 197 Ziff. 1 BV ebenfalls so sahen, so dass sie es daher selber verschuldet haben, dass ihre Initiative nicht umgesetzt werden kann. Die Kommissionsprecher – neben Kurt Fluri Nationalrätin Cesla Amarelle – haben dies im Nationalrat in gleicher Weise ausführlich dargelegt sowie alle dagegen vorgebrachten Einwände souverän gekontert und entkräftet.
Der Nationalrat ist ihnen gefolgt. Bestätigt auch der Ständerat dies – woran nicht zu zweifeln ist – steht nicht nur aufgrund eines bekannten ausführlichen Grundsatzentscheides des Bundesgerichts, sondern auch des Parlaments fest, dass das Ausführungsgesetz zur MEI nach unserem eigenen Recht das FZA mit der EU nicht verletzen darf. Der Ständerat will nur noch ausloten, ob weitere Massnahmen im Sinne von Art. 121a möglich sind, die nicht gegen das FZA verstossen.
Parlament in der Rolle des Verfassungsgerichts
Das Parlament hat bei Fragen der Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen in der Schweiz eine ganz besondere Verantwortung. Weil wir eine Verfassungskontrolle durch das Bundesgericht unmittelbar nach deren Erlass nicht kennen, hat die Bundesversammlung insoweit die Verfassungsgerichtbarkeit auszuüben. Hingegen kennen wir seit unserer Bundesverfassung von 1874 – entgegen einer leider vielfach zu hörenden falschen Darstellung – abgesehen von dieser und einer heute glücklicherweise kaum noch bedeutenden Ausnahme in Art. 190 BV eine Verfassungserichtsbarkeit. Das Bundesgericht hat als letzte und oberste Instanz bei der Rechtsanwendung mit seiner Rechtsprechung in der Funktion auch als Verfassungsgericht Entscheidendes zum heutigen Grundrechtekatalog unserer Bundesverfassung beigetragen.
Die Verantwortung für die Verfassungsmässigkeit der bundesgesetzlichen Umsetzung von Art. 121a BV hat der Nationalrat gerade dank Nationalrat Fluri pflichtgemäss wahrgenommen. Dieser ist sich als Verfechter eines Ausbaus der Verfassungsgerichtsbarkeit durch das Bundesgericht der heute bestehenden reschtsstaatlichen Lücke besonders bewusst. Konsequent ist er daher dafür eingetreten, dass das Parlament bei der noch geltenden Rechtslage diese Verfassungskontrolle selber vorzunehmen hat. Der Nationalrat hat diese vorgenommen, weil er zum Schluss gekommen ist, Art. 121a BV könne wegen des Vorrangs des FZA nicht oder nur in geringem Masse umgesetzt werden.
Unhaltbarer Vorwurf der Missachtung des Volkswillens
Aufgabe der Medien wäre es, das so zu vermitteln, anstatt nur die von der Partei der Initianten entgegen unserem geltenden Verfassungsrecht immer wieder vorgebrachte leere Behauptung eines Verfassungsbruchs unkritisch wiederzugeben und in unverantwortlicher Weise gar zu übernehmen.
Der lautstark erhobene Vorwurf des Verfassungsbruchs fällt in sich zuammen, wenn kritisch betrachtet wird, womit er begründet werden will; nämlich undifferenziert allein damit, der Volkswille werde missachtet. Dabei wird ganz einseitig nur das berücksichtigt, was dem dient und alles andere ausgeblendet. So kam mit der MEI eben nicht nur Art. 121a in die Verfassung, der insbesondere Kontigente zur Einschränkung der Zuwanderung vorsieht, sondern auch die zitierte Übergangsbestimmung, die von einem Vorrang des FZA ausgeht, wenn dieses nicht neu verhandelt werden kann. Weil dies – jedenfalls gegenwärtig – klar nicht der Fall ist und das Völkerrecht gemäss den weiteren Bestimmungen unserer Bundesverfassung (Art. 5 Abs. 4 und Art. 190) zu beachten und bei der Rechtsanwendung massgebend ist, ist es nur verfassungsmässig, Art. 121a BV lediglich so umzusetzen, dass das FZA mit der EU nicht verletzt wird. Das missachtet den Volkswillen nicht, weil auch diese Übergangsbestimmung und alle anderen einschlägigen Verfassungsbestimmungen dem Volkswillen entsprechen. Der Volkswille wird vielmehr in missbräuchlicher Weise angeführt, wenn dies ausser Acht gelassen wird.
Verfassungswidrige und gefährliche Überhöhung des Volkes
Es ist abgesehen davon verfehlt und äusserst gefährlich, das Volk bzw. Volk und Stände über alles erheben zu wollen, wie es von Rechtsaussen nicht nur im Zusammenhang hier und nicht nur bei uns zu beobachten ist. Volk und Stände sind der Souverän, dürfen jedoch in der Demokratie kein absolutistischer Herrscher sein. Sie können unsere Verfassung nach den darin festgelegten Regeln ändern, solange dies jedoch nicht erfolgt ist, sind sie wie jedes andere Staatsorgan im Rechtsstaat den Vorschriften der Bundesverfassung unterworfen.
Es ist deshalb verfassungsmässig und nicht verfassungswidrig, einen Entscheid von Volk und Ständen nur gemäss den Vorschriften der geltenden Bundesverfassung umzusetzen. Das ist auch in keiner Weise undemokratisch, weil Volk und Stände diese Vorschriften selber in demokratischer Weise so erlassen und das damit so bestimmt haben. Überdies ist alles nach dem Verfahren und den Zuständgkeitsregeln der Bundesverfassung – in welchem Verfahren und von welchem Organ auch immer – erlassene Recht in gleicher Weise demokratisch legitimiert. Gegenteilige noch gerne gemachte Aussagen entbehren jeglicher Grundlage – gerade auch im Verhältnis BV/FZA – und untergraben die unbedingte Achtung allen demokratisch gesetzten Rechts in schädlicher Weise.
Beispiele zeigen die Gefährlichkeit
Wie gefährlich es ist, das „Volk“ – dem dabei in aller Regel nur die eigene parteipolitische Klientel in unzulässiger Weise gleichgesetzt wird – über unsere Bundesverfassung zu stellen, zeigt die Geschichte und zeigen die aktuellen Entwicklungen in verschiedenen europäischen und gerne europäisch werden wollenden Staaten, wo Volkstribune mit Mehrheiten ihrer Parteien alle verfassungsrechtlichen Kautelen wie insbesondere die Verfassungsgerichtsbarkeit und damit den allein damit gegebenen freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat aus den Angeln heben wollen. Soweit darf es bei uns nicht kommen; Volk und Stände werden das bei der so genannten Selbstbestimmungsinitiative, die dies zur Folge hätte, zu verhindern wissen – wie dies bei der Durchsetzungsinitiative eindrücklich geschah. Das sollten sich echte Demokraten zu Herzen nehmen.