Anfang der 1980er Jahre veröffentliche Günter Grass ein schmales Buch mit dem Titel «Kopfgeburten – oder die Deutschen sterben aus». Tierisch ernst war der zweite Teil des Titels wohl nicht gemeint. Aber einige besorgte Überlegungen über die stagnierenden Einwohnerzahlen im damaligen Westdeutschland stellte der Schriftsteller schon an. Damals dachte ja noch niemand an eine in absehbarer Zeit mögliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten – Grass wollte sie ja auch später verhindern.
100 Millionen EU-Bürger mit deutscher Muttersprache
Inzwischen ist Deutschland schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert wieder vereint. Die Berliner Republik ist jetzt wirtschaftlich und bevölkerungsmässig klar das stärkste Mitglied in der EU. Österreich und zugewandte Gebiete in Luxemburg und Italien hinzugerechnet, gibt es in der Brüsseler Gemeinschaft gegen hundert Millionen Bürger, die Deutsch als Muttersprache praktizieren. Das sind ungleich mehr als EU-Bürger mit englischer Muttersprache – deren Zahl ja nach dem sich abzeichnenden Austritt Grossbritanniens dramatisch schrumpfen wird.
Der in Ostberlin aufgewachsene deutsche Schriftsteller Eugen Ruge, der mit seinem 2011 erschienen, vielschichtigen DDR-Familienroman «In Zeiten des abnehmenden Lichts» breiten Erfolg erzielte, sieht die Überlebenschancen der deutschen Sprache trotzdem pessimistisch. In einem langen in der «Zeit» veröffentlichten Text bekennt er, dass er, je länger über die Frage nachdenke, desto überzeugter werde, dass der Gebrauch des Deutschen angesichts der rasenden Globalisierung und der damit eskalierenden Dominanz des Englischen aussterben werde – wenn vielleicht auch erst «in zweihundert bis dreihundert Jahren».
Versammlung im Prenzlauer Berg
Ruge berichtet als Beleg für seine Untergangsthese vom Erlebnis an einer Wohneigentümerversammlung im Berliner Prenzlauer Berg. Wegen der Anwesenheit einer einzigen Person am Konferenztisch – übrigens eines naturwissenschaftlichen Professors, der seit sechs Jahren an einer deutschen Uni tätig ist, aber nicht deutsch spricht – hätten alle andern Versammlungsteilnehmer auf Englisch umgeschaltet. Englisch werde mittlerweile über die internationalen Konzerne hinaus immer mehr zur Arbeitssprache und als solche auch weitherum akzeptiert. Wenn Deutschland für die in den kommenden Jahren benötigten hochkarätigen ausländischen Fachkräfte attraktiv bleiben wolle, müsse Englisch zwangsläufig auch zur Verwaltungssprache und später vielleicht sogar zur Amtssprache werden.
So richtig vermag Ruges Pessimismus in Sachen Deutsch (der Autor spricht dank seiner russischen Mutter auch perfekt Russisch und ist durch seine Tschechow-Übersetzungen ins Deutsche ausgezeichnet worden) nicht zu überzeugen. Immer wieder konnte man in den letzten Jahren während der Euro-Krise lesen und hören, wie viele junge Italiener, Spanier, Griechen, Polen, auch Franzosen fleissig Deutsch lernen, um in der prosperierenden Bundesrepublik eine anständige Stelle zu finden. Vor zwei Jahren kamen wir in Malaga mit einer spanischen Musikerfamilie in Kontakt. Drei der erwachsenen Kinder spielten in Deutschland in einem städtischen Orchester und hatten gut Deutsch gelernt.
«Cool Germany»
Der britische «Economist» hat unlängst die zahlenmässige Entwicklung der Deutschkenntnisse in Europa als bemerkenswerte Erfolgsgeschichte dargestellt. Er erinnert daran, dass das Deutsche um die Wende zum 20. Jahrhundert vor allem in wissenschaftlichen Kreisen so etwas wie die Lingua franca war.
Doch wegen der beiden Weltkriege und der katastrophalen Rolle Deutschlands dabei und deren Folgen erlitt auch das Prestige und die Anziehungskraft der deutschen Sprache schwere Einbussen. Nach der Überwindung der deutschen Teilung im Zuge eines seit längerem andauernden wirtschaftlichen Aufschwungs nimmt die Zahl der Deutschlernenden in aller Welt wieder deutlichen zu. Der «Economist» nennt eine Wachstumsrate von 4 Prozent zwischen 2010 und 2015. Das sei in historischer Sicht ein starker Anstieg.
Das britische Blatt betont, dass es in erster Linie die aktuelle kulturelle und wirtschaftliche Ausstrahlung ausmacht, die das Erlernen einer Fremdsprache fördert. Nicht zufällig brachte der «Economist» denn auch vor kurzem eine Titelgeschichte unter der eher überraschenden Überschrift «Cool Germany» heraus. Vor gut zehn Jahren war unter Tony Blair noch von «Cool Britannia» die Rede gewesen.
In Zukunft Chinesisch statt Englisch?
Natürlich, das Englische ist immer noch mit Abstand die wichtigste Verkehrssprache in der Welt. 1,5 Milliarden Menschen sprechen oder verstehen zumindest teilweise das englische Idiom. Chinesische «native speakers» gibt es zwar auch fast eine Milliarde, aber insgesamt summiert sich die Zahl Menschen mit chinesischen Sprachkenntnissen nur auf 1,1 Milliarden. Dahinter folgt die Hindi-Sprache (460 Millionen muttersprachig, 650 Millionen mit Hindi-Kenntnissen).
Die Sorgen des Schriftstellers Eugen Ruge, dass das Deutsche verschwinden könnte, scheinen angesichts der erwähnten Vitalisierungssignale reichlich überzogen. Sogenannte Weltsprachen (zu denen neben Spanisch, Französisch, Russisch, Japanisch, gemessen an der Zahl der Sprechenden, an 10. Stelle auch Deutsch gehört), werden wohl noch eine geraume Weile weiter blühen und existieren.
Wahrscheinlich wird sich parallel dazu immer breiter eine Art globale Verkehrssprache etablieren. Heute hat das Englische unbestritten diese Funktion. Aber wird das – angesichts der gerade im Zeichen einer engstirnigen Führung à la Trump fragwürdiger gewordenen kulturellen und wirtschaftlichen Anziehungskraft Amerikas – so bleiben? Könnte eines ferneren Tages das Chinesische zur dominanten Globalsprache werden? Darüber würde ich mir als als deutscher Schriftsteller mindestens so viele besorgte Fragen stellen wie Eugen Ruge über das mögliche Verschwinden des Deutschen.