Schweizer Politiker und Medien sind empört über den Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wonach die Schweiz zu wenig tue für den Klimaschutz. Dabei mahnt der EGMR nur an, was die Schweiz selbst beschlossen hat.
Die Klage der Seniorinnen für den Klimaschutz hat den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dazu veranlasst, die Schweiz zu verurteilen und sie zu verpflichten, mehr zu unternehmen gegen die Klimakrise. Ist das wirklich «stossend» oder «eine Attacke auf ein tugendhaftes Land» wie das Chefredaktoren führender Zeitungen der Deutschschweiz und des Tessins geschrieben haben?
Gleichzeitig erheben bürgerliche Politiker – mit Ausnahme der Grünliberalen – scharfe Kritik am Urteil der «fremden Richter». Aber diese Richter sind gar nicht fremd. Sie sind Teil des Europarats, zu dem die Schweiz gehört. Er hat die europäische Menschenrechtskonvention geschaffen und erlassen, die Schweiz hat sie ratifiziert. An den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte können sich alle Bürger der 47 Europarats-Staaten wenden.
Jedes Land schlägt einen Richter vor; Andreas Zünd, der Schweizer Richter des EGMR, ein ehemaliger Bundesrichter, hat das Urteil mitgetragen. Sofern man von «fremden Richtern» spreche will, würde das eher für den Gerichtshof der Europäischen Union zutreffen, denn dort ist die Schweiz als Nichtmitglied nicht vertreten.
Austritt in der Logik der SVP
Dass die SVP den Austritt aus dem Europarat verlangt, ist nicht erstaunlich, denn alles was aus dem Ausland kommt – abgesehen von den guten Geschäften und den reichen Ausländern – ist dieser Partei suspekt. Sie verharrt in einer Schweiz der Mythen mit Willhelm Tell, Rütlischwur etc.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass SVP-Nationalrat Alfred Heer, Präsident der Schweizer Delegation beim Europarat, noch vor wenigen Tagen für alt Bundesrat Alain Berset als neuen Generalsekretär des Europarates geworben hat.
Erstaunlich aber sind die Kommentare der vom Urteil beleidigten Parlamentarierinnen und Parlamentarier von Mitte und Freisinn. Immerhin waren die Liberalen einst Vorkämpfer der Menschenrechte. Der Mitte-Fraktionschef Nationalrat Philipp Bregy meint, dieses Urteil werde dem Klima nicht helfen, sondern der SVP. Und FDP-Ständerat Andrea Caroni nannte den Schweizer Richter Andreas Zünd einen Aktivisten. Er plant einen Vorstoss, wonach künftig nicht mehr der Bundesrat, sondern das Parlament den Schweizer Vertreter am Gerichtshof für Menschenrechte empfehlen soll, da die Parlamentarier seiner Meinung nach sorgfältiger auswählen würden.
Für die Grünliberalen keine Überraschung
Für GLP-Präsident und Nationalrat Jürg Grossen ist die Rüge der Strassburger Richter an die Adresse der Schweiz keine Überraschung. Im Gespräch mit Radio SRF sagte er: «Wir wissen, dass wir nicht genug für das Klima machen.» Die Grünliberalen schreiben zudem: «Welche Auswirkungen der Entscheid des EMGR auf die Schweiz haben wird, ist noch nicht vollständig absehbar. Was jedoch klar ist: Die Schweiz muss in Klimafragen ein Vorbild sein und mehr dafür leisten.»
Weshalb wollten die anderen bürgerlichen Parteien die Argumente des Schweizer Richters nicht hören, die er am vergangenen Freitag im Mittagsgespräch von Radio SRF erläuterte? Entscheidend für das Gericht und für Zünd ist: Das Pariser Abkommen wurde vom Parlament genehmigt und ratifiziert, es hat auch dem Referendum unterstanden. Auf dieses Abkommen haben sich 16 von 17 Richtern bezogen.
Die Schweiz ist hinsichtlich der Anforderungen des Pariser Abkommens in Verzug. Das sei der Grund für den Entscheid des Gerichts gewesen und das Gericht helfe durch seinen Richterspruch, demokratisch gefasste Entscheide durchzusetzen. Dies betrachtet das Gericht als Unterstützung der Schweizer Demokratie.
Mit Bezug auf seine Zugehörigkeit zur SP meint Zünd, unter den Richtern in Strassburg sei er die Ausnahme; die anderen Richter wären kaum Mitglieder einer Partei, in der Schweiz hingegen müsse jemand einer Partei angehören, damit er als Richter gewählt werden könne.
Fehlendes Verfassungsgericht
Sollten wir dem Gerichtshof nicht dankbar sein, dass er unser Land dazu drängt, die Klimaziele zu erreichen? Die Schweiz hat ja bekanntlich kein Verfassungsgericht, eine bedauerliche Lücke. Deshalb fehlt ihr eine Instanz, die darüber wacht, dass eingegangene Verpflichtungen durchgesetzt werden.
Wiederholt sind Verfassungsbestimmungen vom Parlament abgeschwächt und nicht verfassungsgerecht umgesetzt worden. Das Bundesamt für Justiz musste dann feststellen, das entsprechende Gesetz sei nicht verfassungskonform. In dieser Hinsicht ist unsere Demokratie mangelhaft.
Es wäre deshalb angebracht, wenn die Politik nicht so selbstgerecht auf ein Urteil von aussen reagieren würde. Konstruktive Kritik sollte eigentlich willkommen sein, denn sie hilft, die eigene Haltung zu überprüfen und angemessene Lösungen zu finden.
Von Parlamentariern könnte man erwarten, dass sie versuchen, das Urteil des Gerichtshofes für Menschenrechte ihren Wählerinnen und Wählern zu erläutern und darauf hinzuweisen, dass der EGMR nicht vorschreibt, auf welche Weise der Klimaschutz verstärkt werden soll. Dass wir mehr tun sollten als bisher, um die von der Schweiz gesetzten Ziele zu erreichen, sollte den Parlamentarierinnen und Parlamentariern bewusst sein.
Unverständlich ist für mich, wie harsch und teils beleidigt grosse Zeitungen auf das Urteil aus Strassburg reagierten. Wo bleibt da die vierte Gewalt? Der Schweizer Presserat sieht die Medien auch als Wachhund der Demokratie. In diesem Fall gebärden sie sich eher als beleidigte Leberwürste.