Mit Ralf Fücks, dem früheren Bürgermeister von Bremen, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung und heute Leiter des Zentrums für Liberale Moderne, sowie mit Claudia Major, der Forschungsgruppenleiterin des Bereichs Sicherheitspolitik der Stiftung für Wissenschaft und Politik.
Ralf Fücks ist von seinem jüngsten Ukrainebesuch zuversichtlicher zurückgekommen, „sowohl hinsichtlich der militärischen Situation, wo es im Westen vielfach eine völlig überzogene Erwartung an Geschwindigkeit und Durchschlagskraft der ukrainischen Gegenoffensive gibt. (..) Die Stimmung im Land ist eine Mischung aus Ernüchterung, auch Erschöpfung (..), trotzdem ist die Kampfbereitschaft und der Wille der Selbstbehauptung ungebrochen.“ „Es ging darum,“, so Claudia Major „im Hinterland das russische Militärpotential zu zerstören und sich systematisch langsam durch diese umfangreichen russischen Befestigungsanlagen durchzukämpfen. Das haben sie jetzt teilweise geschafft. (..) Wenn einmal diese Befestigungen durchbrochen sind, ist die Frage, ob die Ukrainer noch Reserven haben und kommen sie bis zum Asowschen Meer durch. (..) Für ihren weiteren Erfolg hängen sie von der westlichen Unterstützung ab.“
Es geht nicht um westliche Großzügigkeit sondern um unsere ureigenen Interessen
Für Ralf Fücks geht es um „unsere ureigenen Interessen, das ist der Dreh- und Angelpunkt, der bei uns noch nicht richtig angekommen ist, dass nämlich die Ukraine für die europäische Sicherheit und für die Zukunft der europäischen Demokratie kämpft. (..) Der Ausgang dieses Krieges wird eine Weichenstellung sein für die weitere internationale Entwicklung, weit über die Ukraine hinaus. (..)
Wenn der Westen da versagt, dann kommt noch sehr viel mehr ins Rutschen als nur die Ukraine“. „Im Endeffekt“, so Claudia Major, „werden Grundsatzfragen verhandelt: Wie gehen Staaten miteinander um, und muss man sich an Regeln halten. (..) Eine Ukraine, die zu Teilen oder gänzlich russisch besetzt“ bleibe, schaffe für „Europa und Deutschland nur Nachteile. Es wäre eine instabile und deutliche gefährlichere Situation“.
Das größte Risiko ist, dass der Westen sein Ziel nicht definiert hat
Es gebe im Westen, so Ralf Fücks „keine Entscheidung bisher, wie dieser Krieg enden soll. Das ist die strategische Archillesferse (..), die Allianz hat nicht wirklich definiert, was unser politisches Ziel ist. Soll die Ukraine gewinnen oder setzten wir auf eine Erschöpfung beider Seiten, die dann in einen Waffenstillstand mündet, der möglicherweise dann zu Verhandlungen führt. (..) Diese Unentschiedenheit“ sei „das größte Risiko“. Dabei spiele „Russland ganz bewusst auf Zeit (..). Für den Kreml ist klar, dass dieser Krieg in verschiedener Hinsicht eine zentrale Bedeutung für die Zukunft von Russland hat. Er ist der Schlüssel für Putins Traum der Restauration des Imperiums. Ohne Ukraine ist Russland eine mittlere Kontinentalmacht. (..) Gleichzeitig bleibt das Ziel, die NATO entscheidend zu schwächen.(..) Die sehen sich in einem Systemkonflikt (..) Deshalb ist es auch ein Test auf die Handlungsfähigkeit der Demokratien“.
Was wäre, wenn Putin plötzlich offen für einen Waffenstillstand wäre?
Wie reagiert dann die Allianz? Major: „Das würde die westlichen Unterstützerstaaten vor eine enorme Zerreißprobe stellen. Ich kann mir die politischen Stimmen vorstellen, die das begrüssen würden. Russland habe seit 2014 „seine Position nicht verändert. Russland stellt immer noch die Existenzberechtigung der Ukraine in Frage und hat auch seine Kriegsziele nicht verändert. (..) Solange die Regierung, die Gesellschaft und der Staat zutiefst militarisiert sind, solange wird es mit einer solchen russischen Regierung keine Stabilität und keinen glaubwürdig belastbaren Frieden geben. Dann ist jeder Waffenstillstand lediglich eine Atempause. (..) Gebiete, die nach einem solchen Waffenstillstand unter russischer Herrschaft blieben, haben ja dann keinen Frieden, sondern sie sind einer systematischen russischen Terrorherrschaft ausgesetzt. (..)
Die Wahl ist nicht Krieg-Frieden, sondern Krieg oder Vernichtung“. Und das wäre „ja nur ein Einfrieren des militärischen Konfliktes, aber nicht des politischen Konfliktes, der dahinter steht, nämlich die Frage der Freiheit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine. Diese politische Frage käme ja nach einem Waffenstillstand erst auf den Tisch“. Ebenso auch die Frage künftiger Grenzen. Russland könnte „die Lehre daraus ziehen, Krieg führen lohnt sich doch (..) und andere Staaten, die international das beobachten, könnten das genauso sehen.(..) Wenn wir in Europa jetzt anfangen, Grenzen zu diskutieren, ist das die Büchse der Pandorra schlechthin. Völkerrechtlich anerkannte Grenzen sind auch friedenspolitisch eine Errungenschaft und sie sind auch von der Sowjetunion (..) mehrfach anerkannt worden“. „Für die Ukraine“, so Fücks, „wäre ein solcher Waffenstillstand fatal. Das Land wäre weiterhin in einer permanenten militärischen Bedrohungssituation. Das würde ausländische Investoren abschrecken.(..) Die Ukraine wäre wirtschaftlich dramatisch geschwächt. Sie wäre gleichzeitig demoralisiert.“
Es droht generell ein langwieriger, sehr blutiger, sehr brutaler Konflikt
Für die Zukunft äußert Claudia Major ihre „grosse Sorge, dass die westliche Unterstützung langfristig abnimmt, entweder aufgrund der Wahlen in den USA, aufgrund von europäischen Wahlen (..) und dass die Ukraine nicht die Hilfe bekommt, die sie braucht. (..) Die Ukraine wird trotzdem weiter kämpfen. Es droht generell ein langwieriger, sehr blutiger, sehr brutaler Konflikt“. Auch Fücks befürchtet „dass der Westen nicht die politische Entschlossenheit und historische Weitsicht aufbringt, der Ukraine so lange und so stark beizustehen, dass sie diesen Krieg am Ende gewinnen kann“. Fatal sei, dass „die westlichen Demokratien nicht erkennen, was auf dem Spiel steht, weit über die Ukraine hinaus“. Trotzdem schliesst Major etwas optimistischer: „In den letzten 18 Monaten hat die Ukraine es geschafft, über die Hälfte der von Russland eroberten Gebiete zu befreien, weil sie eine enorm beeindruckende Kampfbereitschaft und einen enormen Mut gezeigt haben, weil die westlichen Länder (..) über sich hinausgewachsen sind.(..) Man kann das auch als positiven Anreiz sehen und sagen: Es ist möglich.“
Debatte anhören, zur Website von Tim Guldimann
Journal 21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.