Er wolle sich weder beeilen noch zurückhalten, sagte Ali Khamenei am Freitag in seiner Predigt. Die Welt hatte gespannt auf ein Zeichen der Diplomatie in dieser Rede gewartet, die BBC übertrug die gesamte Predigt sogar live – in der Hoffnung, etwas Erhellendes zu erfahren. Doch die Iraner und Iranerinnen sind nach diesem Auftritt ebenso ratlos wie die übrige Welt.
Ali Khamenei hält sich für einen Meister der Sprache. Mit seinen Hofdichtern veranstaltet er regelmässig Dichterabende, rezensiert dabei fachmännisch ihre Gedichte und trägt auch seine eigenen Verse vor. Als Übersetzer trat er ebenfalls in Erscheinung. Zehn Jahre vor der islamischen Revolution übertrug er das Standardwerk der Islamisten, «Die Zukunft gehört dem Islam», aus dem Arabischen ins Persische. Das ist ein Theoriebuch der Muslimbrüder, das Seyed Qutb Anfang des vergangenen Jahrhunderts in Kairo veröffentlichte.
Es mag verwunderlich klingen, dass man trotzdem oft einen Interpreten braucht, um Khamenei zu verstehen, vor allem, wenn er über heikle Angelegenheiten redet. Und der vergangene Freitag war ein sehr heikler Tag. Nachdem Israel Hassan Nasrallah getötet hatte, berichteten Agenturen, Khamenei sei an einen sicheren Ort gebracht worden. Dementiert wurde diese Meldung nicht. Dafür propagierten staatliche iranische Medien nach dem iranischen Raketenangriff auf Israel, der Revolutionsführer werde diese Woche persönlich das Freitagsgebet halten. Heikel war deshalb nicht allein sein Auftritt, auch auf seine Predigt wartete die Welt gespannt. Die altehrwürdige BBC übertrug seine gesamte Rede sogar live.
Khamenei sprach fast eine Stunde, zunächst auf Persisch, dann las er einen arabischen Text, adressiert an Libanesen und Palästinenser.
Von Eile und Zurückhaltung
In all dem war nichts enthalten, was man von ihm nicht kennt. Modulierte, variierte Sätze, wie immer, seit 40 Jahren. Als er über die Zukunft sprach, waren nur ganze zwei Worte entscheidend, die er zweimal wiederholte und extra betonte: weder Zurückhaltung noch Eile. Und dies kam nur im persischsprachigen Teil seiner Rede vor. Im arabischen Teil der Predigt fehlten diese Worte.
Im Land herrscht Kriegsangst. Bei den Älteren werden Erinnerungen an den achtjährigen Krieg mit dem Irak lebendig, und die Jüngeren sehen die Bilder aus Gaza und Libanon und fragen sich, wie die Zukunft aussehen mag. Und sie hören, dass Khamenei sich weder zurückhalten noch beeilen will. Alles andere als beruhigend. Vor allem, wenn sie in den sozialen Netzwerken sehen, wie selbstverständlich in der Welt über die kommenden israelischen Angriffsziele in Iran debattiert wird.
Was will Trump, was Biden?
Atomanlagen oder Erdölindustrie? Was israelische Bomber in Iran anvisieren sollen, ist nun zu einem US-Wahlkampfthema avanciert. Trump spricht sich dabei für Atomanlagen aus, Biden ist strikt dagegen. Die Zerstörung der Erdöleinrichtungen wollen beide nicht – aus Sorge, die Zapfsäulen der Tankstellen könnten sich in Wahlbarometer verwandeln. Alles andere scheint zweitrangig zu sein. Nebensächlich, unbedeutend sind offenbar die Zahl der Toten, das Ausmass der Zerstörung und überhaupt die Zukunft des Nahen Ostens. Was in Iran aber schliesslich zerstört werden wird, darüber entscheidet Netanjahu allein.
Seit Samstag ist zwar General Michael Kurilla, der das United States Central Command leitet, in Tel Aviv, doch Netanjahu hat sich bereits im vergangenen Jahr von niemandem etwas sagen lassen. Unbeirrt verfolgt er seit dem 7. Oktober 2023 seinen Plan. Und er ist noch keineswegs fertig, im Gegenteil. Er fängt jetzt erst richtig damit an, seine Idee von einer politischen Neuordnung der Region zu verwirklichen. Und der wichtigste Teil seines Plans steht dabei noch an.
Seit Dekaden will er den Kopf des Oktopus zerschmettern, den er in Teheran vermutet. Nun ist es eine Frage des Wann und nicht mehr des Ob. Manche sprechen von den nächsten Tagen. Was danach kommt, das interessiert ihn genauso wenig, wie was aus Gaza, Libanon oder dem Westjordanland werden soll. Niemand sieht ein Exit-Schild, nirgendwo.
Kaiser ohne Kleider
Aber auch der «Oktopus» in Teheran weiss nicht, was er will. Seine ganze Strategie sind jene zwei widersprüchlichen Worte von Zurückhaltung und Eile. Er steht momentan praktisch nackt da, ohne sein wichtigstes Schutzschild. Die einmalige Verteidigungsmiliz, die er in dreissig Jahren mühsamer Aufbauarbeit mit Milliarden und vielen Menschenleben an der israelischen Grenze errichtet hatte, steht vor einer völligen Niederlage. In all diesen Jahren hegte und verbreitete man die Kalkulation, Israel werde aus Angst vor den Zehntausenden Raketen, die der Hisbollah im Libanon gebunkert habe, Iran nicht angreifen. Das war, muss Khamenei heute feststellen, eine existenzbedrohende Fehlkalkulation.
Am Tag nach Khameneis Freitagspredigt veröffentlichte Israels Aussenminister Katz auf seinem Instagram-Account Bilder des getöteten Hassan Nasrallah und seines designierten Nachfolgers Safi Aldin und schrieb darunter: «Khamenei! Du kannst deine Proxys abholen.»
Zaghafte Zuckungen der Diplomatie
Wie gross war Khameneis Fehler? Sehr gross, sagt Benjamin Netanjahu, und nur er allein kennt die ganze Antwort. Während Khamenei seine Predigt hielt, befand sich sein Aussenminister Abbas Aragshi auf dem Flug nach Beirut. Sowohl Khameneis öffentlicher Auftritt in Teheran als auch Aragshis Flug nach Beirut werden in den Medien als Mutbeweise präsentiert. Und am Tag zuvor war der Präsident Pezeshkian in Qatar.
Jenseits der iranischen Grenze, in den Hauptstädten Libanons und Qatars, sollten der Präsident und der Aussenminister Khameneis widersprüchliche Worte von Zurückhaltung und Eile in diplomatische Sprache übersetzen – als eine Art Angebot für einen Waffenstillstand, was Aragshi auch sehr klar formulierte. Doch Netanjahu hat Grosses vor.
Netanjahu verspricht Iranern «Blütezeit»
Am Vorabend der Bodenoffensive in Libanon richtete er sich direkt an die iranische Bevölkerung: Die Freiheit in Iran sei näher, als viele dächten, erklärte Netanjahu. Und im Gegensatz zum iranischen Regime stünde Israel «an ihrer Seite». Die Herrschaft der Ayatollahs bringe die Iraner und Iranerinnen täglich «näher an den Abgrund» und die Region tiefer in Krieg und Dunkelheit. Das dürfe nicht die Zukunft der Menschen in Iran sein.
«Wenn Iran endlich frei ist – und der Moment wird früher kommen, als man denkt –, wird alles anders sein. Zwei alte Völker, das jüdische und das persische, werden endlich im Frieden sein.» Für Iran werde dann «eine neue Blüte» anbrechen: «Klingt das nicht besser als endlose Armut, Unterdrückung und Krieg?», fragte Netanjahu und forderte: «Lasst nicht zu, dass eine kleine Gruppe fanatischer Gotteskrieger Eure Hoffnungen und Träume zertrümmert.» Die Iraner und Iranerinnen und die ganze Welt hätten Besseres verdient: «Mögen wir gemeinsam eine Zukunft von Wohlstand und Frieden erleben!» – mit diesem Satz beendete er seine relativ lange Botschaft, die viele persischsprachige TV-Sender zur besten Sendezeit und in voller Länge ausstrahlten und die auf allen Kanälen der sozialen Netzwerke viral ging, Zehntausende Kommentare bzw. Beschimpfungen inklusive.
Nur naive Geister können annehmen, es entstünde nach Israels Bombardements in Iran eine neue Blütezeit. Viel sicherer ist genau das Gegenteil. Glaubt man den Medien der Revolutionsgarden, wird danach nichts in der gesamten Region so sein wie vorher. Ihre Ziele sind vor allem US-amerikanische Stützpunkte. Hinter allen Machenschaften stünden die USA, sagte Khamenei am Freitag, und das ist eine Zielvorgabe für die Zukunft. Vor allem in Saudi-Arabien weiss man, dass ihre lebenswichtige Ölindustrie eines der bevorzugten Angriffsziele der verschiedenen Milizen sein könnten.
Wer findet den Giftbecher?
In diesen Tagen braucht Iran offenbar ein جام زهر – einen Schierlingsbecher –, der mehr mit dem Leben zu tun hat als mit dem Tod. Das mag verwunderlich klingen, aber dieser Feststellung stimmt die Mehrheit der Iraner und Iranerinnen zu. Der Giftbecher und das Kriegsende sind im allgemeinen Bewusstsein fast unzertrennlich verbunden. Und die Bekanntheit dieser merkwürdigen Verbindung ist niemand Geringerem zu verdanken als Ayatollah Khomeini, dem Gründer der islamischen Republik. Der Krieg mit dem Irak befand sich im achten Jahr, Hunderttausende Tote, noch viel mehr Verwundete und Zerstörungen waren die Folge und ein Sieg kaum in Sicht. Kriegsmüdigkeit war die herrschende Stimmung. Wenige Monate vor seinem Tod, er war krebskrank, sagte der Revolutionsführer, er müsse einen جام زهر , Giftbecher, trinken und widerwillig der UN-Resolution 598 für einen Waffenstillstand zustimmen. Damit war das Sterben an der Front einstweilen beendet.
Ursprünglich wollte Khomeini mit diesem ewigen Krieg den Weg nach Jerusalem ebnen. Vergeblich: Diesen Wunsch nahm er wenige Monate später mit ins Grab. Sein Nachfolger, Ali Khamenei, brauche heute aber zwei Giftbecher, schrieb der Journalist Mehdi Nassiri nach dem Tod von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Ali Khamenei sei jetzt genau dort, wo Khomeini vor 36 Jahren stand, mit dem Unterschied, dass er heute eben zwei Giftbecher brauche: einen für das Ende der Stellvertreterkriege und den anderen für grundsätzliche Reformen im Inneren. Mit ersterem könne er einen möglichen Krieg mit Israel verhindern und mit dem zweiten einen Frieden mit der eigenen Bevölkerung erreichen.
Mehdi Nassiri war einst Chefredakteur der Tageszeitung Keyhan, der Hauspostille Khameneis, und als glühender Anhänger bei allen seinen Audienzen anwesend. Heute ist er einer der schärfsten Kritiker des Regimes, seinem Telegramkanal folgen täglich Hunderttausende. Die Gründe für diese sehr radikale Wende sind vielfältig. Die «Frau, Leben, Freiheit»-Bewegung sei der stärkste und letzte Wachruf gewesen, um aus dem tiefen Schlaf der Engstirnigkeit aufzuwachen, schrieb er einmal auf seinem Kanal.
Khamenei scheint unfähig, den lebensrettenden Schierlingsbecher zu trinken. Kann die Aussenwelt ihm helfen, damit die angekündigte Katastrophe mit universellem Ausmass verhindert wird?
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal