Die Parlamentswahlen finden mit dreieinhalbjähriger Verspätung statt. Sie waren immer wieder verschoben worden, weil zunächst Wahlreformen hätten durchgeführt werden sollen. Diese sollten den Zweck haben, Wahlbetrug zu verhindern. Dass dies jetzt erreicht wurde, ist eher unwahrscheinlich.
Eigentlich hätte das Parlament, in Afghanistan „Loya Jirga“ genannt, schon kurz nach den bitter umstrittenen Präsidialwahlen von 2014 neu gewählt werden sollen. Doch die Präsidentenwahl war derart korrupt, dass sich eine Wahlreform aufdrängte, bevor wieder gewählt werden konnte. Neben den Wahlen der Parlamentarier werden dieses Jahr zum ersten Mal auch Provinzräte für eine jede einzelne Provinz gewählt.
Fast neun Millionen neue Wähler
Gewählt werden sollen jetzt 250 Parlamentsabgeordnete. Etwa ein Viertel von ihnen, nämlich 68, sind Frauen. Laut der Unabhängigen Wahlkommission haben sich 2’532 Kandidaten registriert (leicht abweichende Zahlen wurden ebenfalls publiziert).
Die Zahl der neu registrierten Wähler soll 8,9 Millionen betragen. Doch 600’000 wurde das Wahlrecht abgesprochen. Es gibt 7’377 Stimmlokale, doch nur in 5’100 kann abgestimmt werden. Rund ein Drittel der Lokale bleiben „aus Sicherheitsgründen“ geschlossen. Im Klartext heisst das: Mehr als 2’200 Wahllokale liegen in Gebieten, in denen die Taliban und nicht die Regierung die Macht ausüben.
Die Provinz Ghazni kann nicht wählen
In der gesamten Provinz Ghazni kann nicht gewählt werden. Die Taliban beherrschen dort fast alle ländlichen Zentren. Im vergangenen August überfielen sie die Hauptstadt der Provinz, die ebenfalls Ghazni heisst. Zwar wurden sie dort nach schweren Kämpfen vertrieben. Doch einige der Vorstädte von Ghazni gelten bis heute als „unsicher“. Ghazni liegt an einer strategisch wichtigen Stelle, 120 Kilometer südlich von Kabul. In anderen Regionen Afghanistans sind es einzelne Distrikte, nicht ganze Provinzen, deren Wahllokale „aus Sicherheitsgründen“ geschlossen bleiben.
Die Wahldistrikte fallen mit den 34 Provinzen des Landes zusammen. Dazu kommt noch ein 35ster für die Nomaden, die in Afghanistan „Kuchi“ genannt werden. Die Zahl der jeweiligen Abgeordneten entspricht den Bevölkerungszahlen. In Kabul sind es 33, in den kleinsten Provinzen, Pandschschir und Nimruz, je 2.
Keine Parteilisten
Parteien sind in Afghanistan zugelassen, doch sie dürfen keine Parteilisten für die Wahlen aufstellen. Die Kandidaten können sich als zu einer Partei zugehörig erklären. Doch alle werden als Individuen und nicht als Parteimitglieder gewählt. Rund acht Prozent der Kandidaten haben eine Parteizugehörigkeit bekannt gegeben.
Als die Wahlvorbereitungen schon weit fortgeschritten und die Wählerregistrierung beinahe abgeschlossen war, wollten die Parteien das Wahlsystem ändern und Parteilisten aufstellen. Dies gab Anlass zu heftigen Diskussionen mit der Unabhängigen Wahlkommission. Sie wurde auch angegriffen, weil sie 35 Kandidaten nicht zu den Wahlen zulassen wollte, und zwar mit dem Argument, sie gehörten bewaffneten Gruppen an. Die Lokale der Kommission wurden daraufhin vorübergehend in Kabul und in mehreren Provinzzentren von Protestierenden belagert und mussten geschlossen werden. Die Regierung setzte Sicherheitskräfte ein, um diese Proteste zu beenden.
„Knechte der Amerikaner“
Zwei Grundprobleme belasten die Wahlen: Einerseits die Präsenz der Taliban, andrerseits – vielleicht noch entscheidender – die Korruption. Die Taliban haben laut verkündet, die Wahlen seien bloss ein Manöver der amerikanischen Besetzungsmacht, um ihre Präsenz zu rechtfertigen. Diese Meinung entspricht der Grundhaltung der Taliban, die nicht mit der gegenwärtigen Regierung sprechen wollen. Sie wollen einzig mit den Amerikanern über deren Abzug verhandeln.
Die Taliban denunzieren die Regierung von Kabul als „Knechte der Amerikaner“ und kämpfen gegen die Durchführung der Wahlen. Neun Kandidaten wurden durch Anschläge getötet. Bei Selbstmordattentaten wurden zahlreiche weitere Menschen in den Tod gerissen.
Grosses Sicherheitsaufgebot
Um die Sicherheit in den Wahllokalen zu gewährleisten, hat die Regierung 54’776 Mann der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte bereitgestellt. Dazu kommt noch eine Reserve für Notfälle von 9’540.
Es gibt einige ausländische Wahlbeobachter, jedoch weniger als bei früheren Wahlen. Auch haben sich fünf unterschiedliche Gruppen von freiwilligen einheimischen Wahlbeobachtern zur Verfügung gestellt. Zusammen macht ihre Zahl 6’565 afghanische Beobachter aus. Für die Kosten der Wahlen kommen die Nato-Staaten auf, die in Afghanistan engagiert sind. Ob, wo und wieweit die Taliban am Wahltag selbst versuchen werden, einzugreifen, um den Vorgang zu stören, bleibt abzuwarten.
Die Taliban auf dem Vormarsch
Der zweite Schatten, der über den Wahlen schwebt, ist schwerer zu fassen. Die weit verbreitete Erwartung, dass die Wahlen – wie alle vorausgehenden – gefälscht sein werden, trifft zusammen mit dem Bewusstsein, dass die afghanische Demokratie nicht so funktioniert, wie sie sollte. Alle Beteiligten wissen: Die Taliban haben im vergangenen Jahr Fortschritte gemacht. Alle wissen auch: Sowohl die Amerikaner wie auch ihre eigene Regierung sind heute der Ansicht, dass der Krieg gegen die Taliban nicht zu gewinnen ist. Beide glauben heute, der Krieg könne nur dann zu Ende gehen, wenn mit den Taliban verhandelt wird, und wenn sie künftig an der Regierung beteiligt werden.
Alle wissen auch: Die Amerikaner haben ihren Standpunkt geändert. Früher sagten sie, die Taliban müssten mit der gewählten Regierung von Kabul verhandeln und zu einem Frieden gelangen. Doch heute sind sie bereit, selbst mit den Taliban zu reden – wenn nicht zu „verhandeln“ –, wie die Taliban das immer gefordert hatten.
Baldiges Ende der Demokratie?
Diese „Verhandlungen über Verhandlungen“, die in Katar stattfinden, waren zuerst inoffiziell. Doch im vergangenen September hat Präsident Trump einen offiziellen Unterhändler ernannt. Er ist Zalmay Khalilzad, der frühere amerikanische Botschafter in Kabul und Bagdad. Khalilzad hat seither Pakistan und Katar besucht. In Doha hat er ganz offiziell mit den Taliban Kontakt aufgenommen. Darauf flog er nach Kabul, um dem dortigen Präsidenten, Ashraf Ghani, „Rechenschaft abzulegen“. Präsident Ghani verfolgt seine eigene Friedenspolitik. Doch mit ihm wollen die Taliban nicht verhandeln.
Der Umstand, dass die Amerikaner ihre Haltung geändert haben, dürfte die Taliban in der Hoffnung bestärken, dass sie den Abzug der amerikanischen Truppen früher oder später bewirken könnten. Dies würde dann höchst wahrscheinlich zum Ende der afghanischen Demokratie und zur Machtübernahme der Taliban führen.
Gekaufte Wahlzettel
Diese in Kabul gefürchtete Entwicklung wird von vielen Afghanen in Verbindung gebracht mit der weit verbreiteten Korruption und mit den anderen Unvollkommenheiten des gegenwärtigen demokratischen Regimes. Was die Wahlen angeht, soll es auch diesmal wieder einen regen Markt für regulär abgestempelte Stimmausweise gegeben haben, die von reichen Kandidaten aufgekauft wurden, um ihren Anhängern und Agenten zu erlauben, mehrere Wahlzettel einzulegen.
Ein anderer Schönheitsfehler der Demokratie von Kabul ist der Umstand, dass es nach wie vor neben den demokratisch gewählten Behörden die „War Lords“ gibt, die ihre eigenen Truppen unterhalten und Teile des Landes beherrschen. Präsident Ghani hat versucht, sie zu entmachten, indem er Gouverneure für die betroffenen Provinzen ernannte. Doch er hat sich dadurch nur unbeliebt gemacht, weil die War Lords in ihren seit vielen Jahren beherrschten Machtgebieten viele Gefolgsleute mit Privilegien haben.
Zwei rivalisierende Chefs
Die Rivalität, die zwischen dem Präsidenten und seinem „Oberhaupt der Exekutive“, Abdullah Abdullah, besteht, ist für jedermann offensichtlich. Sie geht zurück auf die umstrittene Präsidentenwahl von 2014, in der die beiden Politiker sich selbst zu Siegern erklärten.
Der damalige amerikanische Aussenminister John Kerry hatte die salomonische Lösung des Monate lang dauernden Streites der beiden Spitzenpolitiker gefunden und durchgesetzt. Ghani wurde Präsident, Abdullah „Oberhaupt der Exekutive“. Doch die eigentlich notwendige Zusammenarbeit der beiden rivalisierenden Regierungsspitzen funktionierte nie – was ihr Regime auf die Dauer unbeliebt machte.
Mehr Terror denn je
Man kann diese Altlasten in Verbindung bringen mit der sich deutlich verschlechternden Lage im Kampf gegen den Terror der Taliban und der mit ihnen rivalisierenden Minorität des IS. Die Überbleibsel des „Islamischen Staats“ werden immer noch von Abu Bakr al-Baghdadi dirigiert. Die Selbstmordattentäter des IS gehen mit besonderer Rücksichtslosigkeit vor. Sie haben aller Wahrscheinlichkeit nach die blutigsten Terrortaten des vergangenen Jahres in Kabul verübt.
Viele Afghanen werfen dem gegenwärtigen Präsidenten vor, dass er nicht in der Lage sei, die Sicherheit in seiner eigenen Hauptstadt zu garantieren. Als Grund für die schlechtere Sicherheitslage wird wiederum „Korruption“ im weitesten Sinne verantwortlich gemacht. In der Tat scheint es den IS-Tätern und den Taliban immer wieder zu gelingen, die afghanische Lokalpolizei zu infiltrieren und dadurch an Informationen zu gelangen, die sie für ihre Anschläge benötigen.
Im Schatten der Präsidentschaftswahlen
Da in Afghanistan der Präsident die entscheidende Rolle spielt, überschattet seine Wahl die jetzigen Parlamentswahlen. Die Präsidentenwahlen sollen am 20. April des nächsten Jahres stattfinden. Noch gibt es keine offiziellen Kandidaten. Doch die Manöver um diese Wahl haben seit geraumer Zeit begonnen. Mehrere mächtige Politiker und War Lords gedenken, eine wichtige Rolle zu spielen und erwägen mögliche Kandidaturen. Die jetzigen Parlamentswahlen werden ihnen dazu dienen, Hinweise auf die Stimmung und auf die Manipulationsmöglichkeiten der Wählerschaft zu bieten.