Der deutsche Regierungssprecher twittert jetzt. Das "ist fast schon ein historisches Ereignis", schreiben die Medien. "Venezuela hat in der zweiten Runde der südamerikanischen WM-Qualifikation einen historischen Sieg errungen", schreibt NZZ online. Der Papst-Besuch in Baden-Württemberg war laut Ministerpräsident Kretschmann "ein historisches Ereignis". Donald Tusk hat in Polen einen "historischen Sieg" gefeiert, schreibt SF online.
"Historisch" bedeutet: etwas hat Geschichte geschrieben. Kann die Gegenwart entscheiden, ob etwas „historisch“ wird? Können wir wissen, was in die Geschichtsbücher eingeht? Ob etwas "historisch" ist, wird erst viel später entschieden: sicher nicht in der Gegenwart.
„Als historisches Ereignis bezeichnet man eine Begebenheit, die eine geschichtliche Veränderung herbeiführt.“ (Hölscher 2002)
Können wir aus heutiger Sicht wissen, ob ein Ereignis eine geschichtliche Veränderung herbeiführt?
Nicht nur die Medienschaffenden, alle Menschen haben die Tendenz, aktuelle Ereignisse allzu stark zu bewerten. Man ist überwältigt und sucht nach Superlativen. „Historisch“ ist ein Superlativ. Man ist überzeugt, dass man auch in hundert Jahren noch davon spricht. Doch vielleicht spricht man eben nicht mehr davon.
Vieles, was heute als „historisch“ bezeichnet wird, wird in der späteren Geschichtsschreibung nicht einmal eine Fussnote Wert sein.
Doch seien wir nicht pingelig. „Historisch“ ist heute ein Synonym für „extrem wichtig“, „einmalig“, „zukunftsweisend“, „nie dagewesen“ oder „bedeutungsvoll“. Die Sprache wandelt sich. Aber ein bisschen falsch ist „historisch“ eben doch.
(hh)
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