Das neue Proporzsystem hat nicht dazu geführt, dass die alten und reichen Berufspolitiker ausgeschaltet und durch neue und jüngere auf das Gemeinwohl hinwirkende Parlamentarier ersetzt worden wären. Noch liegen die Ergebnisse nicht im Detail vor. Doch in grossen Zügen sind sie bekannt.
Mit Paula Jacubian schaffte es nur eine einzige Abgeordnete der sogenannten „Bürgerlisten“ ins Parlament, und zwar im Wahlkreis Beirut 1. Eine zweite Frau der gleichen Ausrichtung, Jumana Haddad, wurde am Sonntagabend ebenfalls als gewählt erklärt. Doch dann hiess es im Innenministerium, eine Zweitauszählung habe ergeben, dass sie nicht die nötige Stimmenzahl erhalten habe. Dies führte zu einem Protest der Parteigänger und Anhängerinnen Haddads vor dem Innenministerium. Der Fall muss wohl von einem Gericht entschieden werden. Die relativ geringe Wahlbeteiligung von 49,2 Prozent dürfte mitbewirkt haben, dass die alten Berufspolitiker und Klientelchefs sich durchsetzen konnten.
Hizbullah triumphiert
Unter den bisherigen politischen Gruppen und ihren Anführern gab es Verschiebungen. Die wichtigsten sind: Hizbullah und die mit der schiitischen Kampfpartei verbündeten Gruppen haben gewonnen. Hizbullah erhielt zwar gleich viele Abgeordnete wie zuvor, doch seine Verbündeten konnten zulegen. Wahrscheinlich werden Hizbullah und seine Verbündeten im Parlament mit 67 der 128 Abgeordneten über die absolute Mehrheit verfügen. Bisher besassen Hizbullah und seine Alliierten im Parlament nur eine Sperrminderheit. Doch schon dies hatte genügt, um die Arbeit von Parlament und Regierung jahrelang zu blockieren.
Die Partei von Staatspräsident Michel Aoun hat einige Sitze verloren, doch bleibt sie mit wahrscheinlich 25 statt wie bisher 27 Sitzen ein starker Verbündeter des Hizbullah-Blocks.
Saad Hariri verliert ein Drittel seiner Abgeordneten
Die wichtigste Verliererin ist die „Zukunftsbewegung“ von Ministerpräsident Saad Hariri. Die Partei hat 11 ihrer bisher 34 Sitze verloren. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Saudis Hariris Wahlkampf nicht mehr finanzierten. Im November 2017 war Hariri während eines Besuchs in Riad zum Rücktritt gezwungen worden. Nachdem er nach Beirut entkommen war, zog er die Demission zurück. Hariri selbst wollte nicht vom Geld reden. In seiner Heimatstadt Tripolis hat der Stimmenkauf Tradition. Der Ministerpräsident erklärt seinen Rückschlag mit dem neuen Wahlsystem, „das viele nicht verstanden“.
Der geschwächte Hariri hat wahrscheinlich keine andere Wahl, als seine bisherige vorsichtige Zusammenarbeit mit Hizbullah fortzusetzen. Wenn er das tut, kann er wohl zunächst Ministerpräsident bleiben, weil in Libanon der Ministerpräsident immer ein Sunnite sein muss. Einige der in den Wahlen erfolgreichen sunnitischen Konkurrenten Hariris sind scharfe Gegner der Schiiten-Partei. Sie sind auch gegen ein Zusammengehen mit dem Hizbullah. Notgedrungen werden sie jetzt wohl in die Opposition gedrängt werden.
Gestärkte Feinde des Hizbullah
Die Opposition gegen den Hizbullah wurde dadurch gestärkt, dass die „Forces Libanaises“ (FL) ihre Sitzzahl im Parlament von 5 auf 11 erhöhen konnten. Die FL stehen unter der Führung von Samir Geagea. Er war ein grausam entschlossener Anführer einer pro-christlichen Miliz im libanesischen Bürgerkrieg. Nach dem Krieg wurde er wegen „Kriegsverbrechen“ verurteilt und verbrachte die Jahre 1994 bis 2005 im Gefängnis. Nach dem Abzug der syrischen Kräfte aus Libanon im Jahr 2005 kam er frei und übernahm die Führung seiner FL-Partei. Er und die Seinen sind bittere Feinde der Syrer und des Hizbullah. Die Forces Libanaises lehnen sich auch gegen Staatspräsident Aoun auf, dessen NPM (Nationale Patriotische Bewegung) mit dem Hizbullah zusammenarbeitet.
Geageas vermehrtes Gewicht im Parlament wird bewirken, dass der Riss zwischen Freunden und Feinden des Hizbullah – den Hariri zu überbrücken versucht, um regieren zu können – nicht einfach verschwinden kann. Die FL können nun zwischen Hizbullah und den libanesischen Sunniten das Zünglein an der Waage spielen. Diese Rolle hatten bisher die drusischen Kräfte unter Führung der Jumblat-Familie inne.
Israel: Libanon = Hizbullah
Als erster Israeli reagierte Erziehungsminister Naftlali Bennet auf die Stärkung des pro-iranischen Hizbullah. Bennet schrieb in einem Tweet, nun „gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Libanon und Hizbullah. Wir machen den Staat Libanon dafür verantwortlich, was Hizbullah vom libanesischen Terrirorium aus unternimmt“.
Für den Augenblick wird nicht viel geschehen. Wahrscheinlich wird Saad Hariri in der Lage sein, vorsichtig mit Hizbullah und seinen Verbündeten zusammenzuarbeiten und eine Koalitionsregierung bilden zu können. Doch die Zeiten stehen im Nahen Osten auf Sturm, vor allem wegen einerseits der erwarteten Verschärfung des Konflikts zwischen Iran und Saudi-Arabien. Zudem droht droht der Streit zwischen den USA und Israel einerseits und Iran andererseits gefährlich zu eskalieren. Diese Konflikte könnten auf mittlere Sicht die fragile Lage in Libanon durchschütteln.
Schiiten geeint – Sunniten gespalten
Für den Augenblick gilt: Statt der bisher zwei, gibt es nun im libanesischen Parlament nur noch ein starkes Lager, jenes des Hizbuzllah. Ihm gegenüber steht nicht mehr ein geeinter sunnitischer Block unter Ministerpräsident Hariri. Die Sunniten sind nun gespalten. Unter ihnen befinden sich scharfe Gegner des Hizbullah sowie andererseits Kräfte, die Hariri treu sind und zu einer Zusammenarbeit mit der Schiitenpartei neigen.
Die Maroniten und andere Christen waren schon früher zerstritten, weil die Partei des christlich-maronitischen Staatspräsidenten Aouns mit Hizbullah zusammenarbeitete. Diese Spaltung hat sich nun wegen der Stärkung der Forces Libanaises vertieft.
Im Gegensatz zu den Sunniten und Christen sind die Schiiten weiterhin geeint und stehen hinter Hizbullah und dessen gemässigter Bruderpartei Amal.