Wie überdauert Musik? Ist sie zeitlos – „Senza Ora“? Im Bahnhof für Neue Musik Basel spürt eine Musiktheater-Produktion diesen Fragen nach.
Unfassbar ist für uns Liebhaberinnen für Neue Musik schon mal die Tatsache, dass sich die „Gare du Nord“ seit nunmehr zwei Jahrzehnten erfolgreich halten kann. Sie verdankt dies vor allem dem unbeirrbaren Feuer der Mitbegründerin, Schauspielerin und Regisseurin Désirée Meiser. In den stimmungsvollen alten Räumen des Badischen Bahnhofs in Basel, mit dem ehemaligen Bahnhofbuffet des Architekten Karl Moser (1860–1936) als Konzertsaal, hat die weit über die Regio hinausreichende Fangemeinde für Neue Musik ihre Heimstatt gefunden. Nächsten Februar kann die Gare du Nord bereits ihr zwanzigjähriges Bestehen feiern.
Dem Phänomen Zeit auf der Spur
Als Geburtstagsproduktion und Auftakt für die Jubiläumssaison 2021/22 realisierte Desirée Meiser nun einen alten Traum: Dem Phänomen Zeit im Live-Hörerlebnis nachzugehen. Denn Musik als flüchtigste aller Künste versteckt sich zwar in Archiven und Tonträgern aller Art, ist jedoch nur im direkten Augenblick, quasi im Rohzustand der Jetztzeit, erlebbar – wenn auch nicht wirklich fassbar.
Von der Frage umgetrieben, ob Vergangenheit, Jetztzeit und Zukunft in einer Art visionärer Gleichzeitigkeit musikalisch erfahrbar werden können, machten sich rund vierzig Beteiligte ans abendfüllende Werk. Können wir vielleicht durch die Musik zu Zeitreisenden werden?
Der Titel des Werkes „Senza Ora“ lässt ebenso viele Fragen offen wie er Antworten versucht. Zum Beispiel die Furcht um das Verstummen der eigenen Kreativität bei zu viel Wissen und angesammeltem Material. Auch aus Archiven und Museen gibt es keine Antwort, aus diesen schon gar nicht.
Literarisch bieten sich diesem Ausgangspunkt ungeheuer viele Texte an. Zu den hier ausgewählten Autoren gehören William Shakespeare („Die ganze Welt ist Bühne ...“), Marchetto Cara, Stefano Landi, Christiaan Huygens, Benedetto Ferrari, Luigi Pozzi und, für Bruno Maderna, Jonathan Levi.
Die Wahl der herangezogenen Komponisten bei einer solchen bis in die Unendlichkeit des Universums gestreuten Thematik kann nur rudimentär sein. Das daraus resultierende einfallsreiche Musiktheater unter der musikalischen Leitung von Jürg Henneberger in der Regie von Desirée Meiser nimmt als Angelpunkt eine Korrespondenz des italienischen Komponisten Bruno Maderna (1920–1973) mit seiner Adoptivmutter Irma Manfredi. Um das Klanguniversum des unentwegt suchenden Komponisten Maderna ranken sich viele andere Meister ihres Fachs, von Marchetto Cara, Stefano Landi, Benedetto Ferrari, Johann Jakob Froberger bis zu Johann Sebastian Bach und Francesco Cavalli.
Welturaufführung mit Überraschungseffekt
Letzterem, einem der ganz Grossen in der Welt der Oper (1602–1676) und Erfinder des Belcanto, wird eine etwas schrille und sehr schweizerisch wirkende Programmnummer gewidmet: Den gesamten Duktus der Handlung unterbrechend, steht im nüchternen Scheinwerferlicht plötzlich eine heutige reale Archivarin, gibt dem Publikum nüchterne Ratschläge für die Aufbewahrung von musikalischem Material und präsentiert zur Überraschung aller ein bisher offenbar tatsächlich unveröffentlichtes Werk von Cavalli von 1651 aus dem Hausarchiv der Musikakademie Basel. Dieses wird dann als Welturaufführung auch tatsächlich aufgeführt. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts her grüsst also zum ersten Male Musik ins 21. Jahrhundert herüber und schlägt so quasi der Vergangenheit ein Schnippchen.
Dem Geist des Hauses entsprechend sind aber natürlich auch jüngere zeitgenössische Komponisten im Projekt eingebunden, so Elnaz Seyedi mit „a sun of one’s own“ und Caspar Johannes Walter mit „Kosmisches Rauschen“, beides Uraufführungen. Der Performer Leo Hoffmann verbindet mit seinen Reflexionen über die Zeit den an uns vorbeiziehenden Reigen der solistischen Sängerinnen und Sänger sowie der Instrumentalisten des Basler „Ensemble Diagonal“ (zur Hauptsache Studierende der Hochschule für Musik Basel) samt Klangstudio im Hintergrund.
Der rund zweieinhalbstündige kurzweilige Abend entstand in Kooperation mit den Instituten Klassik und Schola Cantorum Basiliensis der Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel.
Nächste Vorstellungen: 22./23./24./25. Oktober 2021