Nicht allein Schauspiel, nicht Oper, nicht Musical, nicht Variété: Eine grosse Basler Theaterproduktion geht mit viel Musik einer alten sorbischen Märchengestalt und deren möglicher Deutung im Hier und Jetzt nach.
Wer ist Krabat?
Es geht um Krabat und dessen viele Gestalten und Erlebnisse – eine im Kulturgut der Sorben und Wenden überlieferte Figur, vielleicht vergleichbar mit dem niederländischen Till Ulenspiegel oder König Rübezahl aus dem Siebengebirge. Ist die Sagengestalt aus der Lausitz, wo die beiden deutschen Minderheitenstämme ihre Heimat haben und immer noch beharrlich ein reiches Kulturgut pflegen, in der Überlieferung ein Knabe, so wurde in Basel ein Mädchen daraus gemacht. Und was für ein Mädchen!
Versuch einer Familie
Um es vorwegzunehmen: Durchwegs alle Bühnenfiguren in dieser Basler Gemeinschaftsproduktion überzeugen mit Engagement und Können. Die Hauptfigur aber, das Mädchen Krabat, wird von der deutsch/italienischstämmigen Gala Othero Winter nicht nur überzeugend gespielt – sie wird echt gelebt, bebend, allein gelassen, schreiend vor Sehnsucht nach der Mutter. Und man glaubt ihr jedes Wort.
Die irren Ausbrüche sind vor allem Ausdruck der Überwältigung Krabats durch ihre vielfältigen Verantwortlichkeiten als Älteste der drei Waisen, welche, vom Vater nach der Mutter Tod völlig sich selbst überlassen, in der alten Mühle von Saint Pain aufwachsen.
Gefangen in einer unheilvollen, unwirklichen Szenerie voll von Erinnerungen und Verlangen. Im aussichtslosen Versuch, eine Familie zu sein, oder, wie es Thomas Wise, der musikalische Leiter, ausdrückt: „Gefangensein in einer Emotionsmühle“.
Prima la musica
Dreh- und Angelpunkt bildet die Figur der toten, nur Krabat erscheinenden Sängerin-Mutter, die denn auch mit Belcanto-Stimme in einigen Soli mit grossem Orchester auftritt. Der leuchtende Sopran der Isländerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir trägt mit Arien von Mozart und der Komponistin Anna Bauer eine Art von Klarheit und klassischer Verlässlichkeit in die manchmal überbordende Szenerie. Ein überraschender Kunstgriff, der durch einige, als Intermezzi rein orchestral eingesetzte Werke der musikalischen Weltliteratur (Allegri, Mahler, Schostakowitsch) wirkungsvoll wiederholt wird.
Der neue musikalische Chef des Hauses, der amerikanische Dirigent Thomas Wise, widmet sich mit der Basel Sinfonietta den vielfältigen Anforderungen mit Begeisterung und Verve. Das verwundert nicht, bringt er doch eine reiche Erfahrung mit ähnlich „hybriden“ Theaterproduktionen aus aller Welt mit.
Wiedergeburt der Bühnenmusik
Für den musikalischen Hauptstrang aber, für die eigentliche musikalische Struktur dieser Schauspiel-Oper, ist die junge Hamburger Komponistin und Sängerin Anna Bauer verantwortlich. Der Schwerpunkt ihrer zwischen Volksweisen, Pop und Samuel Barber oder ähnlich arbeitenden Komponisten oszillierenden, sehr eingängigen Musik liegt im Bestreben der Komponistin, die Disziplin der Bühnenmusik wieder aufleben zu lassen, eine emotionale Begleitung der vielen szenischen Elemente zu erfinden. Sie wollte „einen roten Faden durch den Abend bauen“. Was ihr durchwegs gelungen ist.
Die Krabat-Mühle als Spielort
Diese riesige alte Mühle spielt in der Krabat-Sage eine so grosse Rolle, dass sie von den Menschen nicht nur der Oberlausitz reell bis heute noch in Schwarzkollm als Touristenattraktion aufgesucht wird. Die drei Stockwerke der riesigen Mühle wurden auch in die Basler Bühnenfassung (Bühnenbild Matthias Koch) übernommen und erlauben dem Regisseur und Oberspielleiter des Basler Schauspiels Antù Romero Nunes eine lebhafte, abwechslungsreiche und öfters auch witzige Handlungsführung. Einzig das Bühnenbild des Schlussaktes, das nach dem Brand der Mühle allzusehr nach Caspar David Friedrichs „Die gescheiterte Hoffnung“ gebaut ist, lässt auch die Handlung in musicalhaft-romantischem Schneefall erstarren. Da hilft auch eine Original-Tinguely-Maschine auf der Bühne nichts mehr.
Ein Riesen-Projekt
Auf Nunes’ Idee fusst diese ganze Gemeinschaftsproduktion von über 60 Beteiligten plus rund 30-köpfigem Orchester und dem Chor des Theaters Basel. Eine riesige Aufgabe also, und man kann nur staunend vor dem Ergebnis stehen, sich bezaubern lassen, manchmal auch lachen und sich in eine, wohl in uns allen schlummernde, Märchenwelt entführen lassen.
Wer Henry James’ „The Turn of the Screw“ kennt, kann sich wohl am nächsten in diese unerbittliche, oft grausame, aber auch hie und da unschuldige Kinderwelt eindenken. In Basel besorgen das mit viel Phantasie die Basler Textdichter Anne und Lucien Haug. Und doch ist eine ihrer schönsten und berührendsten Textfindungen der Satz: „Du hast die Musik mitgenommen, Mama!“
Nächste Vorstellung: 29. Oktober