Zwei Stimmen, eine ganze Stimmung: Der eine sieht «Architekten der Sackgasse» am Werk, der andere spricht von unerträglicher Vulgarität. Treffender und drastischer, als diese zwei Männer es tun, kann man die bevorstehenden Wahlen in Iran nicht beschreiben.
Es sind keine «verwestlichten Konterrevolutionäre», die sich so abwertend, ja verächtlich über den kommenden Urnengang in Iran äussern, im Gegenteil: Die beiden Männer gehörten vier Dekaden lang – also praktisch seit dem Sieg der Revolution – dem innersten Kreis der Macht in Iran an, und zwar in sehr gehobenen Positionen.
Der erste, der mit der Architekten-Parabel, heisst Ali Rabiei. Er war mehrere Jahre lang Vize-Geheimdienstminister, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates, Arbeits- und Sozialminister und vieles mehr. Rabiei verfasste mehrere Bücher und lehrte an iranischen Hochschulen.
Und der andere, der bei dem «vulgären Spiel» nicht mitspielen will, heisst Mostafa Tajzadeh. Der 67-Jährige stand Ayatollah Khomeini so nah, dass sogar seine Ehe von dem Revolutionsführer persönlich in einer Privatzeremonie besiegelt wurde. Er bekleidete in verschiedenen Kabinetten wichtige Posten. Tajzadeh, der nun das Vulgäre im Spiel sieht, hat einst als Vize-Innenminister selbst mehrere Parlaments- und Kommunalwahlen für die Islamische Republik gemanagt. Momentan sitzt er allerdings wegen «Gefährdung der nationalen Sicherheit» im Teheraner Evin-Gefängnis.
Der misstrauische Greis und die Zukunft
Fast 4’500 Kilometer entfernt erhebt fast gleichzeitig noch ein anderer Mann seine Stimme – gegen Teheraner Machtspiele, die keineswegs vulgär sind: Iran sei die grösste Gefahr für die Sicherheit Israels und der gesamten Region, sagte US-Aussenminister Antony Blinken vergangene Woche am Rande der Münchener Sicherheitskonferenz. Werden die bevorstehenden «Wahlen» in Iran am 1. März all das, im Inneren ebenso wie in der Region, noch finsterer machen? Ja, sagen viele und weisen auf eindeutige Signale, klare Pläne und unmissverständliche Ankündigungen hin.
Wohin steuert dieses Machtgebilde, das sich eine Republik nennt und dessen Geschicke von einem 84-jährigen Ayatollah bestimmt werden, der vor allem und jedem zwei Hassobjekte kennt: die westliche Moderne und den Staat Israel. Nun will, ja muss dieser greise, gänzlich misstrauische, aber machtbewusste Gottesmann seine Hinterlassenschaft regeln. Und dies soll in einem Kreis geschehen, zu dem nur seine absolut vertrauenswürdigen Jünger und Lehnsmänner Zugang haben. Seine Lebenserfahrung, seine erlittenen Demütigungen und Herabwürdigungen zwingen ihn dabei zu einer Akribie, die selbst für die Verhältnisse seiner Republik aussergewöhnlich ist.
Das Expertenparlament
Die Iranerinnen und Iraner sollen an diesem 1. März gleich zwei «Parlamente» wählen. Obwohl mehr Farce als Wahl, birgt die Inszenierung trotzdem Schicksalhaftes. Es klingt merkwürdig, aber von diesen zwei Parlamenten ist das eigentliche, grössere, das gesetzgebende, das die Regierung kontrollieren soll, zugleich das bedeutungslosere. Denn der faktische Schicksalsort war immer بیت رهبری, «das Haus des Führers», wo über alles und jeden im Detail entschieden wird. Hier arbeiten mehrere tausend Menschen mit genauer Arbeitsteilung.
Dagegen hat das zweite, kleinere Parlament, das sich مجلس خبرگان, «Expertenparlament», nennt, eine richtungs- und zukunftsweisende Mission.
Religiös und politisch ist Ali Khamenei نایب امام, «Stellvertreter des Imams», also Verweser jenes Mahdi, der nach schiitischem Glauben seit genau 1093 Jahren in Verborgenheit lebt und am Ende der Zeit wiederkehren soll. Khamenei herrscht im Namen dieses schiitischen Messias und nichts anderes bedeutet sein System: ولایت فقیه, die «Herrschaft des Gelehrten».
So gesehen trifft das Expertenparlament, das gemäss der iranischen Verfassung über Khameneis Nachfolger entscheiden soll, eine Wahl für die Ewigkeit, bis zur Wiederkehr des verborgenen Imams. «Hoffentlich erscheint der Mahdi schon zu Lebzeiten des Führers, dann bräuchten wir keine Wahl zu treffen», sagte mit ernster Miene einer der kandidierenden «Experten» vor zehn Tagen vor den Kameras.
88 alte Geistliche
Realistisch und machtbewusst wie er ist, verfolgt Khamenei für die Zeit nach seinem Ableben einen genauen Plan. Das Expertenparlament, das er an diesem Tag für acht Jahre wählen lässt, besteht aus einer Versammlung von 88 Ayatollahs und anderen hochrangigen Geistlichen, die fast alle jenseits ihres 70. Lebensjahrs sind. Keiner dieser alten Männer hat in seinem Wahlbezirk einen echten Rivalen, oft steht nur ein einziger Name auf der Wahlliste.
Ob alle diese Experten ihre achtjährige Amtszeit überleben, ist höchst fraglich. Mehr als ein Drittel der Mitglieder des gegenwärtigen Expertenparlaments starben während ihrer Mandatszeit. Der 96-jährige Ahmad Jannati, der sehr mächtige bisherige Präsident dieses Parlaments, verzichtete auf eine erneute Kandidatur. Doch auch ohne ihn gehen die Vorbereitungen präzise voran, die Pläne sind wasserdicht und selbst kleinste mögliche Unsicherheiten beseitigt.
Nach diesem 1. März will Khamenei die ganze Welt wissen lassen, dass die Reise seiner Republik bis zum Erscheinen des schiitischen Messias, bis zum Jüngsten Tag genauso weitergehen werde wie bis jetzt, so wie er und seine Jünger diesen Weg markiert haben. Nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel.
Nur die Lehnsmänner
Wie genau, gründlich und abgesichert diese Wegplanung für die Zeit nach seinem Exitus ist, lässt sich an der Liste jener ablesen, deren Eignung für dieses Parlament abgelehnt worden ist. Zwei Beispiele: Einer der abgelehnten Kandidaten ist Hassan Rohani. Rohani war nicht nur acht Jahre lang Präsident dieser Republik, sondern auch 16 Jahre Mitglied eben dieses Expertenparlaments und fast 20 Jahre Chef des Nationalen Sicherheitsrates. Die komplette Beschreibung und Aufzählung aller Ämter, Funktionen und Missionen, die er in Khameneis Ordnung erledigt hat, würde sehr lang werden. Doch diesmal war seine Eignung für das Expertenparlament nicht ausreichend.
Das zweite Beispiel ist Mahmud Alavi, ebenfalls ein hochrangiger Geistliche, der 16 Jahre lang Geheimdienstminister war und ebenso lange auch Mitglied des Expertenparlaments. Der 70-Jährige hatte seit Entstehung der Islamischen Republik zahlreiche höchst sensible Funktionen inne. Auch Alavi wurde diesmal für ungeeignet befunden. Eine offizielle Erklärung für diese Ablehnungen gibt es nicht und die Abgelehnten sind so systemtreu, dass sie weder protestieren noch Fragen stellen.
Es geht um den Fortbestand des Schiismus
Warum dieses Wasserdichte, warum diese Hermetik?
Jawad Karimi Ghodussi, ehemaliger Offizier der Revolutionsgarden, der dieser Tage als vorlauter, kecker Parlamentsabgeordneter in Erscheinung tritt, griff nach einem schiitischen Mythos, um zu begründen, warum Rohani & Co. ungeeignet seien: Sie wollten im Expertenparlament jene Geschichte wiederholen, die sich nach dem Tode des Propheten im Hause Bani-Saqifeh abspielte, erklärte Karimi im Parlament. Diese schiitische Legende geht so: Es ist Nachmittag am 8. Juni des Jahres 632. Seit Mohammeds Tod sind nur wenige Stunden vergangen. Ali, der Schwiegersohn, und andere Familienmitglieder des Propheten sind mit der Beerdigung des Verstorbenen beschäftigt. Alis Gegner nutzen die Gelegenheit, versammeln sich im Hause Bani-Saqifeh und wählen Abu Bakr zum Kalifen, also Führer der Muslime.
Der Wahrheitsgehalt dieser Überlieferung tendiert gegen Null, doch das Märchen markiert den Beginn einer fast 1’500 Jahre alten, zum Teil blutigen Geschichte zwischen Sunniten und Schiiten. Erzählt von Karimi Ghodussi soll sie suggerieren, wenn Khamenei hinscheide, könne nur ein «reines» Expertenparlament den Fortbestand des Schiitentums garantieren. Denn diese Kontinuität gewähre nur ein von Khamenei gewünschter und geschätzter Nachfolger.
Nie wieder der «Makel des Unterschätzten»
Das kommende Expertenparlament soll aber noch aus einem anderen Grund eine komplett geschlossene Gesellschaft sein. Khamenei will seinem Nachfolger jenes Chaos, jene Ungewissheit und Demütigung ersparen, die er selbst bei seiner Wahl erleiden musste. Die dramatische Stunde seiner Inthronisierung wenige Stunden nach Khomeinis Tod ist in der virtuellen Welt für immer verewigt.
Zwanzig Minuten dauert das Schauspiel – eine Szenerie voller Herabwürdigung und Blamage für Khamenei, bis er schliesslich knapp gewählt wird. An einer Stelle dieser Aufnahme hört und sieht man, wie Khamenei gesteht: «Man muss diese Republik beweinen, die mich zum Führer wählt.» Zum Schluss wird er als Notkandidat auf den Schild gehoben. Und der Makel des Unterschätzten blieb an ihm haften. Zeit seiner inzwischen 35-jährigen Herrschaft versuchte er, das Odium der Geringschätzung mit Gewalt abzulegen. Nachvollziehbar, dass Khamenei seinem Wunsch-Nachfolger dies ersparen will; und nur so lässt sich begreifen, warum sogar jemand wie Hassan Rohani keinen Zugang zum nächsten Expertenparlament haben darf.
Wer Khamenei folgt und wie er schliesslich inthronisiert werden wird, bleibt spekulativ. Immer wieder taucht der Name seines Lieblingssohns Mojtaba auf, der ebenso radikal und verbohrt ist wie sein Vater. Viele meinen sogar, dass der Sohn noch radikaler sei.
Entwarnung aus berufenem Munde
Muss es so schlimm kommen, muss die Welt den Zukunftsplan hinnehmen, den Khamenei und seine Jünger ausgeheckt haben? Nicht unbedingt. Der optimistische Blick in die Zukunft dauert nur 45 Sekunden. Es ist eine vielversprechende Hoffnung, die dieser Tage viral geht. Zu Beginn kommt kurz der Lichtblick, dann folgen 20 Sekunden lehrreiche Erklärung, warum die befürchtete Finsternis nicht eintreten wird.
«Mojtaba wird es nicht»: Diese besänftigende Stimme, diese Entwarnung kommt von Mehdi Nassiri. Auch für ihn verkörpert Khameneis Sohn Mojtaba das Worst-Case-Szenario, das nicht nur die Mehrheit der Iranerinnen und Iraner, sondern viele Menschen in den Nachbarstaaten und darüber hinaus fürchten.
Ob das, was Nassiri verbreitet, Wunschdenken oder eine zuverlässige Information ist, wird sich in nicht allzu langer Zeit erweisen, höchstwahrscheinlich noch in dieser Periode des Expertenparlaments. Dürfen wir hoffen?
Der 60-jährige Nassiri ist ein Insider besonderer Art. Jahrelang stand er Khamenei so nah wie kein zweiter. Er gehörte mehr als drei Dekaden zum innersten Kreis von dessen Entourage. Nassiri war Khameneis Lieblingsschüler und auch sein Vertrauter. Seinen Werdegang kann man auch als Khameneis Auf- und Abstiegsgeschichte lesen.
Was Nassiri war und was er heute ist und macht, erzählt die Geschichte, die Gegenwart und auch die Zukunft des Teheraner Machtgefüges. Kurzgefasst: Er war ein junger Mullah aus dem schiitischen Seminar in der Pilgerstadt Qom, als er Khamenei als talentierter Journalist auffiel. Khamenei machte ihn gegen viele Widerstände in den eigenen Reihen zum Chefredakteur der Tageszeitung «Keyhan», seinem offiziösen Sprachrohr. Nassiri war lange ein ständiger Gast in Khameneis Audienzen – eine längst vergangene, vergessene Geschichte. Sein Bruch mit Khameneis Ordnung war ein schleichender Prozess, sein radikaler und endgültiger Abschied fand öffentlich und ohne Hemmungen nach dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini im September 2022 und den darauffolgenden Protesten statt.
Nun beruhigt Nassiri in diesem kurzen Clip alle: «Mojtaba wird es nicht.»
Noch wichtiger als seine Aussage ist seine Begründung dafür: Die sozialen Netzwerke hätten in Iran inzwischen eine schleichende und tiefgreifende Kulturrevolution verursacht, die dies Khamenei und seinen Jüngern nicht erlaube, sagt Nassiri mit einer triumphalen Stimme. Wunschdenken oder Wahrheit? Das werden wir bald wissen.
Mit freundlicher Genehmigung von IranJournal.org