Der russische Text enthält weder eine Verurteilung der syrischen Regierung wegen der schweren Verletzungen der Menschenrechte, noch droht er Sanktionen an. Wie die USA verfolgen die Russen ihre vermeintlichen globalpolitischen Interessen. Sie setzen alles daran, den Zusammenbruch des Al-Assad-Regimes und dessen Ablösung durch pro-westliche Kräfte abzuwenden.
Der russische Resolutionsentwurf verweist auf „die Rolle, die Syrien bei der Erhaltung des Friedens und der Stabilität in der Region spielt“. Er gibt sich neutral, indem er die friedlichen Demonstranten und den Unterdrückungsapparat des Regimes auf die gleiche Ebene stellt. Die syrische Regierung wird aufgefordert, „die angekündigten Reformen zu beschleunigen, um den legitimen Wünsche und Sorgen der Bevölkerung wirksam Rechnung zu tragen“. Die Opposition soll „einen politischen Dialog mit den Behörden beginnen, der in eine substantielle und tief schürfende Diskussion über die Wege einmündet, wie die syrische Gesellschaft reformiert werden kann“.
„Dieser Text ist noch schwächer als die gemeinsame Erklärung, die der Sicherheitsrat am 3. August abgegeben hat, obwohl sich die Lage in Syrien seither stark verschlimmert hat“, urteilt der Vertreter Grossbritanniens. Die westlichen Ratsmitglieder sehen keine Möglichkeit, ihren Entwurf irgendwie mit dem russischen zu verschmelzen. Auf die Frage, welche Staaten seinen Antrag unterstützen, antwortete Russlands Botschafter Witalij Tschurkin sibyllinisch: „Ich habe den Eindruck, dass wir mindestens auf mehrere Miteinbringer zählen können.“ Gewiss ist den Russen die Unterstützung Chinas. In den Kulissen ringen jetzt beide Blöcke darum, die massgeblichen Drittweltstaaten Brasilien, Indien und Südafrika auf ihre Seite zu ziehen.
Nach bewährtem Muster versuchen die russischen Diplomaten mit Spitzfindigkeiten in Verfahrensfragen zu punkten. Sie behaupten, dass ihr Entwurf vor dem westlichen zur Abstimmung gelangen müsse. Botschafter Tschurkin hat nämlich sein Papier an einer Sitzung am vergangenen Freitag den anderen 14 Ratsmitgliedern direkt unterbreitet, während der Resolutionsentwurf der EU und der USA bisher nur dem Sekretariat zugestellt wurde.
Weit werden die Russen mit ihrer Taktik allerdings nicht kommen. Egal, über welchen Entwurf zuerst abgestimmt wird: er wird am Veto einiger ständiger Mitgliedern des Sicherheitsrats scheitern. Gegen das westliche Papier werden Russland und China stimmen, gegen das russische die USA, Frankreich und Grossbritannien. Damit ist man in die Patt-Situation des Kalten Kriegs zurückgefallen.
Warum verbeissen sich die Russen derart in die Beschützerrolle für Baschar Al-Assad? Der Grund liegt darin, dass sie sich seit der Auflösung der Sowjetunion weltpolitisch immer stärker in die Defensive gedrängt fühlen. Chruschtschow und Kennedy diskutierten einst über die Lage im Nahen Osten auf gleicher Augenhöhe. Auch ihre Nachfolger hielten sich gegenseitig in Schach. Als die Sowjetunion auseinander fiel, stand plötzlich der Eintritt einiger Nachfolgestaaten in die Nato auf der Tagesordnung. In den Augen der russischen Führung werden die „orangen“ oder andersfarbigen Revolutionen tatkräftig vom Westen gefördert. Der „arabische Frühling“ und die Entmachtung Gaddafis mit Hilfe der Nato haben die Einflusszone Moskaus weiter verringert. Der letzte Verbündete, der Russland im Nahen Osten bleibt, ist Syrien – ein Staat von strategischer Bedeutung, der an Israel, den Libanon, den Irak, die Türkei und Jordanien grenzt und in dem die Quellen des Jordan-Flusses liegen. Die politische Achse Teheran-Damaskus versteht sich als Bollwerk gegen eine westliche Vorherrschaft.
Der iranische Aussenminister Ali Akbar Salehi warnte am Samstag, ein Rücktritt Al-Assads würde zu einem Machtvakuum in Syrien führen, das eine Krise in der ganzen Region zur Folge haben könnte. Diese Einschätzung teilen auch die Russen. Sie stellen sich damit aber gegen die Haltung der meisten arabischen Länder. Die Arabische Liga hat am Wochenende beschlossen, eine Delegation von sechs Aussenministern nach Damaskus zu entsenden. Sie soll Al-Assad die Botschaft übermitteln, dass die militärische Gewalt gegen Zivilisten beendet werden müsse.
Der Generalsekretär der Staatengruppe, der Ägypter Nabil Al-Arabi, erklärte sogar, Forderungen nach einem radikalen Wechsel seien legitim.
Der Sinneswandel in der arabischen Welt schlägt sich auch auf der internationalen Bühne nieder. Vor einer Woche stimmten 33 der 46 Mitglieder des Menschenrechtsrats der UNO in Genf für eine von der EU ausgearbeitete Resolution, in der das syrische Regime scharf verurteilt wird. Mit an Bord waren die arabischen Ratsmitglieder Saudi-Arabien, Jordanien, Kuwait und Katar. Gegen die Verurteilung stimmten nur Russland, China, Kuba und Ecuador. Sie landeten damit im Abseits. Diese schmerzliche Niederlage hält die sonst so pragmatischen Russen offenbar nicht davon ab, im Weltsicherheitsrat weiterhin auf die syrische Karte zu setzen.