Wie anderswo auf der Welt gibt es auch in Chinas Grossstädten Fussgängerstreifen. Ungleich der Schweiz allerdings werden diese – nicht der jure, wohl aber de facto – im besten Fall als unverbindliche Empfehlung, im schlimmsten Fall, also in der Regel, von den Autofahrern ganz einfach nicht beachtet. Die Verkehrsregel Nummer eins in China heisst also schlicht und einfach: Autos haben selbst auf Zebrastreifen immer Vorfahrt. Und Radfahrer scheren sich ohnehin keinen Deut um irgendwelche Vorschriften.
Chinesischer Stil
Spazieren in Peking also ist hochgefährlich. Das ist inzwischen auch zum Thema in der lebendigen chinesischen Blogger-Gemeinde geworden, die zu allem und jedem, also neben Politik auch zum Verkehr, ihren Senf gibt. Der Ausdruck «die Strasse überqueren mit chinesischen Besonderheiten» wurde dank Cyberspace zum geflügelten Wort. In chinesischem Stil heisst nichts anderes, als bei Rot ohne Rücksicht auf Verluste die Strasse, selbst sechsspurige Innerstadt-Verkehrsachsen, zu überqueren. Neben Polizisten gibt es ein Heer von Verkehrshilfskräften, die rote Fähnchen schwingend versuchen, Fussgänger vom Selbstmord abzuhalten und in die nächste Unterführung zu dirigieren. Meist ohne Erfolg.
Nun greifen die Behörden durch. Wer in Peking erwischt wird, zahlt bei einer «roten Überquerung» des Zebra-Streifens zehn Yuan (umgerechnet 1.80 Franken). Und zwar subito in cash. In Nanjing, der Millionenmetropole am unteren Yangtse-Strom, zahlt man gar doppelt soviel. Die städtischen Verkehrsmanager sind nicht umsonst besorgt. Der Strassenverkehr in China fordert einen hohen Blutzoll. Im Jahre 2011 – nach letzten verfügbaren Zahlen – kamen in China bei 210‘000 Verkehrsunfällen 63‘000 Menschen ums Leben, 240‘000 wurden verletzt.
Die Kolleginnen und Kollegen von Fernsehen und Presse bleiben nicht untätig. Besonders schön jene des Zentralen Fernsehsenders CCTV mit Bildern, welche die spannendsten Strassenüberquerungs-Szenen aus verschiedenen Städten Chinas zeigen. Mit Wiederholungen in Slow Motion, versteht sich. Ob zur Abschreckung, zur Nachahmung oder ganz einfach zur Unterhaltung und Schadenfreude, wird nicht ganz klar. Reporter der englischsprachigen Regierungszeitung «China Daily» wiederum haben an einer belebten Pekinger Kreuzung innerhalb von zehn Minuten 47 Strassenüberquerungen «mit chinesischen Besonderheiten» beobachtet. Keiner der Fehlbaren wurde gebüsst. Die städtischen Verkehrsmanager freilich wollen ja nicht nur strafen. Vielmehr sind sie nach eigenem Bekunden bemüht, berichtet die parteiamtliche Nachrichten-Agentur Xinhau (Neues China), den Verkehrsfluss im allgemeinen und den Fussgängerfluss im besonderen «wissenschaftlich» zu regeln, also flüssiger zu machen.
Massnahmen gegen den Verkehrskollaps
Die chinesische Renaissance hat inzwischen – wie die geneigten Leser und die klugen Leserinnen von Journal 21 wohl wissen – mit einem in der Weltgeschichte beispielslosen Wirtschaftswachstum viele Fussgänger und Radfahrer zu Automobilisten gemacht. Diese verstopfen nun die Strassen Pekings und anderer Grossstädte. Wie alles in China sind auch die Verkehrsstaus gigantisch und weltrekordverdächtig. Das rasante Wachstum hat seinen Preis.
Die roten Mandarine freilich haben auch hier schnell geschaltet. Der Öffentliche Verkehr ist zum wichtigen Thema avanciert. Schliesslich soll der Verkehrskollaps verhindert werden. Die Einwohnerzahl der Megalopolis Peking beispielshalber hat sich in den letzten fünfzehn Jahren auf heute 21 Millionen verdoppelt. Der ÖV-Ausbau ist deshalb in einem für Schweizerische Vorstellungen geradezu unheimlichen Tempo vorangetrieben worden. Im Jahre 2002 gab es in Peking zwei Metro-Linien mit einer Gesamtlänge von 54 Kilometern und 41 Stationen. Heute verfügt die chinesische Hauptstadt über ein Netz von 442 Kilometern mit 15 Linien und 261 Stationen. Peking verfügt nun vor London über das weltweit längste U-Bahnnetz. Und wohl auch das billigste. Eine Fahrt, unabhängig von der Distanz, kostet zwei Yuan, knapp dreissig Rappen. In zwei Jahren sollen es 19 Linien sein, und 2020 wird die Totallänge 1'000 Kilometer betragen. Das sind, wie die jüngste Vergangenheit zeigt, keine leeren Versprechungen.
Und es eilt. Bei derzeit elf Millionen Passagieren täglich herrscht in den hochmodernen U-Bahn-Zügen bereits jetzt qualvolle Enge. Das Reisen in einem überfüllten Basler Trämli oder einer rappelvollen Zürcher S-Bahn ist vergleichsweise bequem. Die Behörden haben inzwischen Sicherheitsvorkehrungen getroffen aus Furcht vor panischen Reaktionen der Massen im Untergrund. Der Hinweis, dass in den Waggons weder getrunken noch gegessen werden darf, wäre – weil unmöglich – in Peking gar nicht nötig.
Nicht so in Wuhan, wie die Pekinger Presse mit Erstaunen der werten Leserschaft berichtet hat. In der Zentralchinesischen Industriestadt nämlich ist es ob einer Nudel mampfenden Passagierin zum Eklat gekommen. Diese wurde von einer Mitpassagierin photographiert. Das liess sich die Ertappte nicht bieten und griff zur Selbsthilfe. Mit Gusto zerquetschte sie das Nudelgericht auf dem Kopf der Photographin.