Präsident Putins Rede vor dem russischen Parlament gilt bereits als historisches Dokument. Sicher war sie eine rhetorische Meisterleistung, die erklärt, warum inzwischen rund 80 Prozent der Russen die Wiedereingliederung der Krim in die russische Föderation befürworten. Auch für westliche Beobachter lohnt es sich, Putins Rede nachzulesen, vor allem jene Sätze, welche die Doppelmoral des Westens an den Pranger stellen:
Das Recht des Stärkeren – nicht Völkerrecht
„Unsere westlichen Partner, allen voran die Vereinigten Staaten, ziehen es vor, in ihrer praktischen Politik nicht vom Völkerrecht, sondern vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Sie glauben, etwas Auserwähltes, Besonderes zu sein, daran, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen und daran, dass immer nur sie allein Recht haben können. Sie handeln so, wie es ihnen einfällt: Mal hier, mal da wenden sie Gewalt gegen souveräne Staaten an, bilden Koalitionen nach dem Prinzip, „wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“. Um ihren Aggressionen das Mäntelchen der Rechtmässigkeit zu verleihen, erwirken sie entsprechende Resolutionen bei internationalen Organisationen, und wenn das aus irgendeinem Grund nicht gelingt, dann ignorieren sie sowohl den UN-Sicherheitsrat, als auch die UNO als Ganzes…“ (www.kremlin.ru)
Hier werde die „hässliche Aussenseite des amerikanischen „Exceptionalism“ (Einzigartigkeit) angesprochen, meint Paul Pillar. Der ehemalige Top-Analyst der CIA bedauert es, dass sich die Amerikaner von Wladimir Putin solches sagen lassen müssten (www.nationalinterest.org/blog/paul-pillar/putins -instructive-speech).
Inventar des amerikanischen Imperialismus
Was Putin mit „Mal hier, mal da“ nur antönt, hat Stephen Kinzer in seinem Buch („Putsch! Geschichte des amerikanischen Imperialismus“ 2007) konkret mit Namen, Ländern benannt und analysiert: Mossdadegh im Iran 1953, Arbenz in Guatemala 1954, Südvietnam 1963, Allende in Chile 1973, Grenada 1983, Panama 1989, Afghanistan 2001, Hussein im Irak 2003. In diesem Inventar des US-Imperialismus kommt der ehemalige Auslandkorrespondent der „New York Times“ auf insgesamt 14 Regierungen, die von amerikanischen Geheimdiensten oder Militärkräften gestürzt worden seien. An Kinzers Buch erinnert der ehemalige Vize-Chefredaktor der „Washington Post“, William Greider, in einem Beitrag mit dem Titel: „Under Putin, Russia is acting a lot like the USA“ (www.thenation.com 31.März 2014).
Viele Rohrkrepierer
Die Mehrzahl der von den USA inszenierten Staatsstreiche, so lässt sich entgegenhalten, fand im Kalten Krieg statt. Kann man sie deshalb auch als „alte Geschichten“ abhaken ? Ein Beispiel aus dem tiefen Kalten Krieg: Der von Washington und London gesteuerte Coup gegen das nationalistische Mossadegh –Regime in Teheran 1953 brachte den verhassten Shah wieder an die Macht. Dies wiederum inspirierte die islamische Revolution. Der Sturz von Mossadegh erweist sich im Rückblick als Rohrkrepierer, als „Blowback“, wie im internen Sprachgebrauch der CIA unbeabsichtigte Folgen einer Politik genannt werden, die auf den Handelnden zurückschlagen (www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und afrika. 29.3. 2014).
Als typischer „Blowback“ entpuppt sich auch Afghanistan, wiederum ursprünglich ein Schauplatz des Kalten Krieges. Dort bekämpfte Washington nach 1979 den sowjetischen Einmarsch und unterstützte mit Hilfe der Saudis islamische Gotteskrieger. Daraus entstanden radikalislamistische Gruppierungen wie Al Qaida oder die Taliban. Nach dem sowjetischen Abzug drehten die gleichen Kämpfer den Spiess um und riefen zum heiligen Krieg gegen die USA auf, der im Anschlag von 9/11 im Jahr 2001 kulminierte.
„Der falsche Feind“ in Afghanistan
Die USA und ihre Verbündeten, die sich jetzt aus Afghanistan zurückziehen, haben in Wirklichkeit während 13 Jahren gegen den „Falschen Feind“ Krieg geführt. Zu diesem Schluss kommt Carlotta Gall, die aus der Region für die „New York Times“ berichtet hat. Galls stärkstes Argument: Al Qaida und Taliban haben ihre Ausbildungslager und Sponsoren in Pakistan, einem Alliierten der USA. (Carlotta Gall. „The wrong Enemy“. America in Afghanistan 2001 – 2014. 2014).
Schwerwiegende ungewollte Nebeneffekte amerikanischer Interventionen sind auch im Irak und Syrien zu beobachten. Zuerst behauptete Washington, Al Qaida sei mit Saddam Hussein verbandelt und habe Stützpunkte im Irak. Das erwies sich als plumpe Lüge. Zehn Jahre später verfügen Al Qaida nahestehende Organisationen tatsächlich über eine Basis im Westen des Iraks und greifen von dort in den syrischen Bürgerkrieg ein. In Syrien selber kämpfen Gotteskrieger aus Pakistan, Afghanistan und dem Irak gegen das Assad-Regime. Sie besitzen Waffen aus Beständen des libyschen Diktators Gaddafi, der 2011 durch eine Intervention des Westens gestürzt worden ist… Die Reihe von „Rohrkrepierern“ liesse sich verlängern.
Für den ehemaligen CIA-Analytiker Paul Pillar signalisiert „Blowback“ „ein Versagen, die Konsequenzen von Aktionen durchzudenken.“ Der ehemalige stellvertretende Leiter der Antiterrorabteilung bei der CIA führt das zurück auf ein „kurzfristiges, ahistorisches Denken des politischen Establishments der USA“. Nur so könne man sich erklären, warum heute in Washington die gleichen Falken, welche die USA in den Krieg im Irak gezogen haben, jetzt ein hartes Vorgehen gegen Moskau fordern können.
Putin – Russlands Ronald Reagan
Gegen die neue Front von Falken in Washington versucht Andranik Migranyan anzukämpfen. Der ehemalige Kreml-Berater hat die undankbare Aufgabe, in der amerikanischen Offentlichkeit Imagepflege für Moskau (Soft Power) zu machen. Der Leiter des von Moskau finanzierten „Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit“ (New York) versucht in der US- Zeitschrift „The National Interest“, das heutige Russland zu erklären: Die russische Führung, die Elite und die Gesellschaft haben seit Mitte der 2000er Jahre ihren Minderwertigkeitskomplex der 1990er Jahre überwunden. Russland hat mehr Selbstvertrauen gewonnen und ist auch wirtschaftlich erstarkt.
Dann wagt Migranyan einen Vergleich mit den USA. Putin spiele heute für Russland eine ähnliche Rolle wie Roland Reagan in den USA. Migranyan erinnert an Reagan, der in seinem Wahlkampf gegen Präsident Jimmy Carter mitten in der für die USA so demütigenden Iran-Krise (monatelange Besetzung der US-Botschaft in Teheran durch Islamisten) die wahrscheinlich wahlentscheidende Aussage machte: „Mir ist es egal, wer Amerika liebt oder hasst. Aber ich werde dafür sorgen, dass Amerika wieder respektiert wird.“ Reagans Botschaft überzeugte. Carter wurde 1979 aus dem Amt gejagt. (Putin is Russia`s Reagan.www.nationalinterest.org 21. Februar 2014).
Der „Kalte Krieger“ Ronald Reagan begegnete 1985 in Genf Michail Gorbatschow, der aus dem „Reich des Bösen“ (Reagan) kam. Das denkwürdige Treffen war ein deutliches Zeichen, dass der Kalte Krieg zu Ende ist.
„Mit Gottes Hilfe den Kalten Krieg gewonnen“
Reagans Nachfolger, Präsident George Bush sen., verkündete in seinem letzten „Bericht zur Lage der Union“ im Januar 1992: „Das Grösste, was in meinem und in unserem Leben auf der Welt passiert ist: Mit Gottes Gnade hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen.“ Auch Russland „dankte Gott“, sah aber das Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion mit anderen Augen. Es war die veränderte Haltung der Sowjetführung unter Gorbatschow, der mit Perestroika und Glasnost das für die internationale Politik entscheidende Zeichen setzte. Und Moskau meisterte den Zerfallsprozess des eigenen Imperiums unter weit weniger brutalen Begleitumständen als in Jugoslawien, wo der Westen mit seiner Anerkennungspolitik massgeblich zum mörderischen Zerfall des Landes beigetragen hat.
Nichts sprach dafür, am Bild der feindlichen Supermacht Moskau festzuhalten. Auf der Tagesordnung hätte Gorbatschows Vorstellung von einem „gemeinsamen Haus Europa“ und dem Aufbau einer neuen Sicherheitsordnung von „Vancouver bis Wladiwostok“ stehen sollen.
Verhängnisvoller Triumphalismus im Westen
Der Westen verharrte aber in seiner Siegesstimmung, die einen verhängnisvollen Triumphalismus hervorrief. Weniger als zehn Jahre nach der Auflösung des Warschaupaktes, des östlichen Verteidigungsbündnisses, begann die westliche Gegenorganisation unter dem alten Namen Nato, die ersten ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion als Mitglieder aufzunehmen. Als die amerikanische Aussenministerin Madeleine Albright im Februar 1997 zum Antrittsbesuch bei Russlands Präsident Boris Jelzin erschien, beruhigte sie russische Aengste mit der griffigen Botschaft: „Nicht mehr wir gegen euch, nicht mehr ihr gegen uns, sondern wir alle gemeinsam auf derselben Seite,“ das sei die neue Philosophie der Nato. Alle gemeinsam auf derselben Seite ?
Russland sah sich auf der Verliererseite. Alle offiziellen Verlautbarungen der drei Präsidenten im Kreml – Jelzin, Putin, Medwedew – sprechen vom Unbehagen über die Missachtung russischer Anliegen bei der Umgestaltung der europäischen Sicherheitsordnung nach 1989. Bis zu Putins zornigem Auftritt bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 wurde die russische Kritik im Westen ignoriert.
Fehlstart nach 1989 korrigieren
Zur Zeit wird im Westen das Gespenst eines neuen Kalten Krieges beschworen. Die Emotionen werden sich wieder legen. Vielleicht beginnt man dann zu verstehen, dass auch Putins völkerrechtswidriger Griff nach der Krim ein „Blowback“ einer falschen Politik ist , die in Russland und im Westen ungewünschte Nebeneffekte ausgelöst hat. Dazu muss man sich aber von herkömmlichen Vorstellungen lösen und die neuen Realitäten akzeptieren: Die USA sind nicht mehr die alles dominierende „einzige Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski). Russland muss die Verkleinerung seines Herrschaftsgebietes hinnehmen, kann aber nicht „isoliert“ werden und Putin lebt nicht in einer „anderen Welt“ (Angela Merkel). West und Ost leben in der gleichen Welt, brauchen aber eine neue Sicherheitsordnung, die den Fehlstart nach dem Ende des Kalten Krieges korrigieren und das Kernanliegen jedes Staates, Sicherheit, garantieren muss.