Anfang April 2024 haben mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft unter Führung der Operation Libero die Volksinitiative «Für eine starke Schweiz in Europa» (Europa-Initiative) lanciert. Die Initiative hat ein klares Ziel: Die Schweiz soll aktiv an der europäischen Integration teilnehmen. Fragen wirft das Timing der Initiative auf. Ein Schwachpunkt könnte auch die wenig potente Trägerschaft sein.
Die Europa-Initiative besteht aus drei Absätzen. Der erste sagt: «Der Bund beteiligt sich aktiv an der europäischen Integration.» Der zweite Absatz legt Bereiche fest, in denen die Schweiz vorrangig Verträge mit der Europäischen Union (EU) abschliessen soll: Binnenmarkt, Kultur, Bildung, Forschung, Schutz des Klimas. Der dritte Absatz stellt sicher, dass die Teilnahme der Schweiz an der europäischen Integration unter Beachtung und Wahrung der direkten Demokratie, des Föderalismus, der Nachhaltigkeit und des sozialen Ausgleichs stattfindet.
Eine Insel inmitten der EU
Die Europa-Initiative will so die Teilnahme der Schweiz an der europäischen Integration als wichtigsten Teil der schweizerischen Aussenpolitik in der Bundesverfassung verankern. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass diese Integration hauptsächlich durch die EU mit ihren gegenwärtig 27 Mitgliedstaaten verkörpert und vorangetrieben wird. Die EU ist die wichtigste politische und wirtschaftliche Organisation in Europa.
Die Schweiz ist gegenwärtig eine Insel inmitten der EU. Trotzdem ist sie mit ihr aufs Engste verbunden. Die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz. Die Verbindungen sind aber nicht nur wirtschaftlicher Art. Mit der EU teilt die Schweiz die gleichen Werte wie Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft. Wir sprechen in der Schweiz die gleichen Sprachen und haben die gleiche Religion wie unsere Nachbarstaaten aus der EU. Unionsbürger sind überdies die wichtigste Ausländergruppe in der Schweiz.
Die Schweiz und die EU haben denn auch bis heute über 120 bilaterale Verträge abgeschlossen. Die wichtigsten sind das Freihandelsabkommen (1972), das Versicherungsabkommen (1989), das Transitabkommen (1992), die Bilateralen I (1999) und die Bilateralen II (2004). Gegenwärtig verhandeln die Schweiz und die EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket (Bilaterale III).
Die Wege zum Ziel bleiben offen
Dieser überragenden Bedeutung der EU für die Schweiz will die Europa-Initiative mit einem Verfassungsartikel Rechnung tragen. Wie die Teilnahme der Schweiz an der europäischen Integration aussehen soll, lässt die Initiative dabei bewusst offen. Das kann mit bilateralen Verträgen geschehen, wie dies zurzeit der Fall ist, mit einem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), wie dies 1992 schon einmal versucht wurde, oder gar mit einem EU-Beitritt. Möglich ist aber auch eine andere Form der Teilnahme; wichtig ist allein, dass die Schweiz bei der europäischen Integration aktiv mitmacht.
Die Teilnahme der Schweiz an der europäischen Integration soll auch ambitioniert sein. Dazu formuliert die Europa-Initiative explizit Bereiche, in denen vorrangig Verträge mit der EU abgeschlossen werden sollen: neben dem Binnenmarkt sind dies Forschung, Bildung, Kultur und Klima. Möglich sind auch Verträge in Bereichen, die in der Initiative nicht erwähnt werden. Im Vordergrund steht dabei die Sicherheitspolitik, die angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die Erwähnung von Verträgen im Bereich des EU-Binnenmarkts im Initiativtext geschieht bewusst und hat konkrete Auswirkungen: Sollten die Bilateralen III scheitern, kann die Schweiz nicht einfach auf ein blosses Freihandelsabkommen mit der EU zurückfallen.
Ein Einwand und drei Entgegnungen
Viele werden sich fragen, warum die Europa-Initiative ausgerechnet jetzt lanciert wird, da der Bundesrat aktiv Europapolitik betreibt und mit der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket verhandelt. Ist das nicht Wasser in den Rhein getragen?
- Nein, denn die Europa-Initiative ist eine Rückversicherung, falls die Bilateralen III scheitern. Mit der Europa-Initiative können die Schweizerinnen und Schweizer in drei bis vier Jahren einen Grundsatzentscheid fällen, der in der Bundesverfassung verankert werden soll, ob die Schweiz bei der europäischen Integration in irgendeiner Form mitmachen soll oder nicht, ob sie ein aktiver Teil Europas sein will oder nicht. Das ist unabhängig vom Schicksal der Bilateralen III im Parlament oder in einer Volksabstimmung.
- Nein, weil die Europa-Initiative den Bundesrat bei seinen Verhandlungen mit der EU über ein neues, drittes bilaterales Vertragspaket unterstützt. Diese Verhandlungen gehen nämlich für die Initianten der Europa-Initiative in die richtige Richtung. Wer die Initiative jetzt unterschreibt, stärkt dem Bundesrat deshalb in einem kritischen Moment den Rücken in den innenpolitisch nicht unumstrittenen Beziehungen zur EU.
- Nein, weil die Europa-Initiative der Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer eine Stimme gibt, die gemäss Umfragen geregelte Beziehungen zur EU wollen. Wer die Initiative unterschreibt, gibt ein Statement ab gegen die Abschotter in der SVP und weiteren nationalkonservativen Kreisen, gegen die vielen Skeptiker in Parteien wie der FDP, der Mitte und der SP sowie in den Medien. Mit der Europa-Initiative gehen die bisher stillen Proeuropäer in die Offensive.
Die grossen, bekannten Namen fehlen
Träger der Europa-Initiative sind mehrere Organisationen der Zivilgesellschaft unter Führung der Operation Libero. Mit dabei sind etwa auch der Verband der Schweizer Studierendenschaften, die Europäische Bewegung Schweiz, die Vereinigung Die Schweiz in Europa, die Gesellschaft für grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Swissculture und Orchester.ch. Mit Ausnahme von Operation Libero also keine grossen, bekannten Namen. Von den etablierten Parteien machen einzig die Grünen und die Jungen Grünen mit. Von den grossen Partien FDP, Mitte und SP wollte sich keine engagieren. Die sonst sehr proeuropäisch eingestellte GLP ist ebenfalls nicht dabei. Auch die Verbände der Wirtschaft, die doch an ausgebauten Beziehungen zur EU interessiert sein sollten, halten sich abseits.
Dass es nicht gelang, eine potente Trägerschaft aufzubauen, kann ein Nachteil für den Erfolg der Europa-Initiative sein. Trotzdem wollen die Initianten mit dem Zustandekommen und schliesslich der Zustimmung zur Initiative beweisen, dass in der Schweizer Bevölkerung eine klare, wenn auch bis jetzt schweigende Mehrheit zugunsten geregelter Verhältnisse mit der EU besteht.
* Martin Gollmer ist Mitglied des Initiativkomitees der Europa-Initiative.