Nach dem ersten Durchgang der Parlamentswahlen in Frankreich heute in einer Woche wird man besser einschätzen können, ob das rechtsextreme «Rassemblement National» bei der Stichwahl am 7. Juli tatsächlich zumindest stärkste Fraktion in der Nationalversammlung wird oder eventuell sogar eine absolute Mehrheit erringen kann.
Präsident Macron scheint seit der selbstmörderischen Auflösung der französischen Nationalversammlung in Folge des für ihn katastrophalen Ergebnisses bei den EU-Wahlen am 9. Juni die Orientierung verloren zu haben und steht mehr oder weniger da wie ein kleiner Junge, der das Geschirr zertrümmert hat und nicht weiss, was er da angerichtet hat.
Die Stimmung im Land ist angespannter denn je und in der politischen Landschaft Frankreichs scheint so gut wie kein Stein auf dem anderen zu bleiben.
Gewaltige Turbulenzen
Denn turbulenter geht es kaum noch im politischen Leben eines Landes, als das, was sich seit dem 9. Juni im westlichen Nachbarland abgespielt hat.
Die extreme Rechte insgesamt («Rassemblement National» von Marine Le Pen, «Reconquête» des noch extremistischeren Éric Zemmour und zwei kleinere ultrarechte Listen) holte bei den Europawahlen bekanntlich annähernd 40% der Stimmen. Es ist ein Stimmenanteil, dessen Höhe wahrlich historisch ist und von der extremen Rechten noch nie, auch nicht in den 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts, erzielt worden war. Damals hatten ultrarechte Parteien und Ligen der parlamentarischen Demokratie den Kampf angesagt, bevor sie von der Volksfrontregierung unter dem Sozialisten Léon Blum zwischen 1936 und 1938 zumindest vorrübergehend, bis zur Machtübernahme durch Pétain, gestoppt worden waren.
Und was tat Emmanuel Macron, der allmächtige Präsident, angesichts dieser noch nie dagewesenen Situation?
Er verkündete am 9. Juni, nur eine gute Stunde nach Schliessung der Wahllokale und zur enormen Überraschung aller, die Auflösung der französischen Nationalversammlung und damit Neuwahlen in zwei Durchgängen, bereits am 30. Juni und am 7. Juli, um, wie er sagte, «Klarheit zu schaffen».
Macron dürfte diese Klarheit nach dem 2. Wahlgang am 7. Juli serviert bekommen, allerdings wird sie, entgegen des geradezu kindischen und trotzigen präsidialen Optimismus, nicht den Anschein haben, den sich der Präsident eigentlich wünschen müsste.
Denn schlicht niemand kann sich mehr vorstellen, dass Macrons Partei «Renaissance» nach dem Debakel bei den Europawahlen nicht auch bei diesen Parlamentswahlen kräftig an Stimmen und am Ende an Sitzen verlieren wird.
Heftige Kritik an Macrons einsamer Entscheidung
Die relative Mehrheit von 240 Abgeordneten – die absolute Mehrheit liegt bei 289 von 577 Sitzen –, über die «Renaissance» bislang verfügte, scheint in weite Ferne gerückt auf Grund des Unverständnisses, der Empörung, ja der Wut, die Macrons einsame Entscheidung auch in seinen eigenen Reihen ausgelöst hat. Erst diesen Donnerstag erklärte z. B. Macrons ehemaliger Premierminister, Édouard Philippe, der Präsident habe schlicht seine eigene Partei gekillt.
Ja, es gibt mittlerweile so gut wie keinen Minister und keine namhafte Persönlichkeit aus der Umgebung Macrons, die den Schritt des Präsidenten nicht zumindest als verantwortungslos kritisiert hätten.
Die Folge: Die Kandidaten der Macron-Partei befinden sich dieser Tage im Freiflug und agieren bestenfalls mit dem Mut der Verzweiflung in diesem Wahlkampf, den ihnen ihr Präsident zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt überhaupt eingebrockt hat. Ja, sie geben dem Präsidenten seit rund einer Woche klar zu verstehen, dass sie von ihm nur noch eines wollen, nämlich dass der einstige Hoffnungsträger – den Catherine Nay, die betagte Grande Dame des politischen Journalismus in Frankreich, dieser Tage als «Verbomoteur» bezeichnet hat – schlicht und einfach den Mund hält.
Und sehen möchten sie den Präsidenten auch nicht mehr, weder im Fernsehen, noch an ihrer Seite. Fast keiner der Kandidaten und keine der Kandidatinnen dieser schwerst angeschlagenen Zentrums- und Präsidentenpartei «Renaissance» hat für das Wahlplakat optiert, auf dem er oder sie mit Emmanuel Macron abgebildet sind. Das Konterfei des Präsidenten – zum Einstampfen.
Just im Moment, da die extreme Rechte einen triumphalen Höhenflug feiert, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben, war auf jeden Fall nichts weniger als politisches Harakiri.
Die Konsequenz daraus scheint jetzt, zwei Wochen nach dem EU-Wahldebakel, bereits klar: Ein irrlichternder Macron, der nicht mehr zu wissen scheint, was er gerade tut, hat nicht nur die französische Nationalversammlung, sondern de facto sich selbst und seine Partei aufgelöst, wie es gleich mehrere Kommentatoren formulierten.
Warum das Ganze?
Schier endlos und letztlich ohne Antwort bleibt die Suche nach den Gründen, die Macron zu diesem Schritt der Parlamentsauflösung bewegt haben könnten, zumal der Präsident noch eine Woche vor den EU-Wahlen klipp und klar gesagt hatte, das EU-Wahlergebnis, von dem man schon wusste, dass es für die Liste der Präsidentenpartei schlecht ausfällt, werde auf nationaler Ebene keinerlei Konsequenzen haben.
War es die pure Hilflosigkeit, eine gewisse Lust am Pokerspiel oder tat Macron dies, weil er gerne ein reichlich perverses und gefährliches Spiel zu betreiben gedenkt? Ein Spiel nach dem Motto: Lassen wir die extreme Rechte ruhig an die Macht kommen, sie wird dann drei Jahre lang zeigen können, dass sie unfähig ist zu regieren und nicht in der Lage, die Macht – zu der Präsident Macron durch die Auflösung des Parlaments ihr quasi die Schlüssel in die Hand gegeben hat – auch wirklich auszuüben. Damit verbunden könnte das riskante Kalkül sein, wonach auf diese Art und Weise bei den wichtigsten, bei den Präsidentschaftswahlen in drei Jahren, Marine Le Pen dann auch bei ihrem dritten Versuch scheitern wird, als Präsidentin in den Élyséepalast einzuziehen.
Wie schon so oft seit sieben Jahren hat Jupiter, der allmächtige Präsident, wieder einmal nur auf sich selbst gehört und seinem Ego freien Lauf gelassen. Oder waren es tatsächlich vier reichlich mysteriöse, eher zwielichtige Berater, darunter ein Intimus von Ex-Präsident Sarkozy, die – wie «Le Monde» berichtete – den amtierenden Präsidenten von der Notwendigkeit überzeugt haben, diesen denkwürdigen Schritt zu tun und Neuwahlen mit völlig ungewissem Ausgang zu dekretieren, ausgerechnet auch noch kurz vor Beginn der Olympischen Spiele, die Frankreich ab dem 26. Juli auszurichten hat?
Sicher ist, Emmanuel Macron hat zuvor nicht einmal, wie Artikel 12 der Verfassung dies eigentlich vorschreibt, die Präsidenten der Nationalversammlung und des Senats konsultiert – sie mussten sich mit einem knappen Telefonanruf begnügen – und selbst sein Premierminister, Gabriel Attal, wurde nur knapp zwei Stunden vor der Verkündung über dieses, aller Wahrscheinlichkeit nach für die Fraktion der Präsidentenpartei selbstmörderische Unterfangen informiert.
Danach war der Regierungschef, der nun ausgerechnet auch noch den Wahlkampf des zerrütteten Macron-Lagers anführen soll, für 24 Stunden ganz von der Bildfläche verschwunden, um danach mit versteinerter Miene und rabenschwarzem Blick wieder in der Öffentlichkeit zu erscheinen – Gabriel Attal musste nichts sagen, damit alle Welt verstand, was er von der einsamen präsidialen Entscheidung hielt.
In der Zwischenzeit hatte nicht nur die aus Macrons eigenem Lager kommende Parlamentspräsidentin harsche Kritik am Vorgehen des Präsidenten geäussert, sondern das gesamte politische Frankreich stand schlichtweg Kopf. Es hagelte Kritik von allen politischen Seiten mit dem Hauptvorwurf an das Staatsoberhaupt, der extremen Rechten möglicherweise Tür und Tor auf dem Weg zur Macht geöffnet zu haben.
Nur Jordan Bardella, Spitzenkandidat der Le-Pen-Partei bei den EU-Wahlen, durfte sich auf die Schenkel klopfen, hatte der Präsident an diesem Wahlabend doch exakt das getan, was er und Marine Le Pen schon seit Wochen für den Fall eines schlechten Wahlergebnisses gefordert hatten.
Nachwahlfiasko bei den Konservativen
Nach dem Schock am Abend der EU-Wahlen ertönte in Frankreich am darauffolgenden Montag gleich ein weiterer politischer Donnerschlag.
Der ereignete sich bei der alten, konservativen Partei «Les Républicains», der Partei die sich seit ihrer Gründung auf das Erbe General De Gaulles berufen hatte und mit deren Hilfe einst Jacques Chirac und dann Nicolas Sarkozy zu Präsidenten gekürt worden waren. Bei jüngsten Wahlen aber war sie über die 8% nicht mehr hinausgekommen, ja hatte bei den Präsidentschaftswahlen 2022 nicht mal mehr die 5%-Hürde geschafft. Ihr von den Mitgliedern gewählter Präsident, der als Rechtsausleger landesweit bekannte südfranzösische Abgeordnete, Éric Ciotti, überschritt an diesem Nachwahltag doch tatsächlich den Rubikon und verkündete, seine Partei werde mit dem rechtsextremen «Rassemblement National» bei diesen Parlamentswahlen ein Bündnis eingehen.
Noch ein Sieg für Marine Le Pen
Ein Aufschrei der heillosen Empörung ging durch seine eigene Partei, ja durch das ganze Land. Sämtliche Granden der Konservativen, vom Senatspräsidenten bis zum Finanzminister, brachten ihr Entsetzen über diesen Schritt ihres Parteipräsidenten zum Ausdruck.
Diese Partei, die besonders unter Jacques Chirac und noch bis vor wenigen Jahren eine Art Brandschutzmauer gegen die extreme Rechte errichtet hatte, jede Kompromittierung mit ihr gegeisselt hatte und in der Sätze geprägt wurden, wie «Es ist besser, eine Wahl zu verlieren als seine Seele» – diese Partei biedert sich nun – geht es nach ihrem Präsidenten – beim rechtsextremen «Rassemblement National» an und lässt sich de facto von ihm schlucken.
Nebenbei bemerkt ist das «Rassemblement National» eine Partei unter deren Gründern sich 1972 sogar Personen befanden, die während des Algerienkriegs versucht hatten, General De Gaulle zu ermorden.
Auf den Titelseiten der Tageszeitungen dominierte nach dem unsäglichen Schritt des Parteipräsidenten der Konservativen ein einziges Wort: «La Honte» – die Schande.
In den Tagen danach bekam die Öffentlichkeit dann eine Mischung aus Schmierenkomödie und Kasperltheater geboten. Die höchsten Parteiinstanzen traten umgehend zusammen und schlossen ihren eigenen Präsidenten aus der Partei aus.
Doch Éric Ciotti dachte nicht daran zu gehen, schliesslich sei er von den Mitgliedern gewählt, tönte er, klagte gegen den Beschluss der Parteigremien und bekam vorrübergehend Recht.
Zuvor hatte Ciotti sich doch tatsächlich im noblen Sitz seiner Partei eingeschlossen. Seine Stellvertreterin musste erst mit einem Zweitschlüssel kommen, um ihren Parteikolleginnen und Kollegen Einlass zu verschaffen.
Seit dem vorläufigen Gerichtsurteil sitzt der konservative Parteipräsident nun Tag für Tag einsam in seinem Büro und scheint die Leere zu verwalten, wenn er nicht gerade vor Kameras und Mikrophonen unbeirrt an seinem Entschluss festhält. Ob seine Partei «Les Républicains» dieses Trauerspiel und diese von ihm verursachte Schande überleben wird, steht in den Sternen, scheint dem Parteipräsidenten Ciotti aber nichts anhaben zu können.
Marine Le Pen jedenfalls hat auf Grund von Ciottis Handeln jetzt zumindest teilweise geschafft, woran sie schon seit einem Jahrzehnt beharrlich gearbeitet hat: das Zusammengehen von Rechten und extremen Rechten und zwar unter der Fuchtel ihrer Partei, des «Rassemblement National».
Geeinte Linke – selbst das war plötzlich möglich
Wie ernst die Stunde ist, die nach dem 9. Juni in Frankreich geschlagen hat, mag man auch daraus ersehen, dass es die an sich hoffnungslos zerstrittene Linke in etwas mehr als 72 Stunden doch tatsächlich geschafft hat, ein Wahlbündnis zusammenzuschustern, welches sie in Anspielung an die Volksfront der Jahre 1936 bis 1938 jetzt «Le Nouveau Front Populaire» getauft haben.
Die sozialdemokratischen Sozialisten, die Linkspartei «La France Insoumise» (LFI), die Grünen und die Kommunistische Partei haben sich darauf geeinigt, im ersten Wahlgang am 30. Juni in jedem der 577 Wahlkreise des Landes nur einen einzigen, gemeinsamen Kandidaten oder eine Kandidatin ins Rennen zu schicken. Man ist geneigt zu sagen: ein unerwarteter Sieg der Vernunft. Dies trotz der Tatsache, dass die Linkspartei «La France Insoumise» mit ihrem ehemaligen Chef und radikalen, konfliktfreudigen Leader Maximo, Jean-Luc Mélenchon, inhaltlich mit jeder der drei anderen Parteien im Konflikt steht. Ganz besonders seit Beginn des Kriegs zwischen Israel und der Hamas, wo sich zahlreiche Vertreter von LFI mit ihren propalästinensischen Äusserungen und Aktionen am Rand zum Antisemitismus bewegten.
Doch dieses Zweckbündnis der Linken hat sogar einen weiteren, kapitalen Bock ausgehalten, den die Führung der Linkspartei «La France Insoumise» in diesen Tagen geschossen hat.
Ihr fiel in dieser historischen Situation nichts besseres ein, als mit altstalinistischen Methoden fünf ihrer bisherigen Abgeordneten per Ukas nicht mehr als Kandidaten aufzustellen. Deren Vergehen? Sie hatten es in den letzten Monaten doch tatsächlich gewagt, die Parteiführung und die Gallionsfigur der Partei, Jean-Luc Mélenchon, öffentlich zu kritisieren.
Doch trotz allem haben die vier Parteien der Linken sogar auch so etwas wie ein Programm zustande gebracht, das allerdings kaum jemand allzu ernst nimmt. Ihr Programm – und das scheint in dieser Situation auch das einzige Richtige – lautet im Grunde schlicht und einfach: «Verstellen wir der extremen Rechten so weit wie möglich den Weg an die Macht, sorgen wir dafür, dass sie so wenige Abgeordnete wie möglich in die Nationalversammlung bringt, streiten können wir später.»
Realistisch gesehen wird dieses Wahlbündnis zwar dafür sorgen, dass in der nächsten Legislaturperiode insgesamt mehr linke Abgeordnete in der Nationalversammlung sitzen werden als bisher, jedoch kaum verhindern können, dass das extrem rechte «Rassemblement National» die stärkste Fraktion in der Nationalversammlung stellen wird.
Diejenigen der Linken jedenfalls, die schon wieder lauthals davon zu träumen beginnen, man könnte nach dem 7. Juli im Parlament gar die Mehrheit stellen, werden sich wohl eines Besseren belehren lassen müssen.
Macrons Antwort
Frankreichs Präsident hat sich mit seiner Auflösung der Nationalversammlung gleich in mehreren Punkten verkalkuliert – immer vorausgesetzt, dass er mit diesem Schritt wirklich eine Strategie verfolgte und ihn nicht nur aus verletztem Stolz und aus Trotz getan hat.
Verkalkuliert hat er sich mit Sicherheit, was die Linke angeht.
Nie und nimmer hätte er gedacht, dass die vier Parteien des linken Lagers sich für ein Wahlbündnis zusammenraufen könnten.
Nun, da es geschehen ist, bleibt Präsident Macron nur noch die eine, reichlich hilflos wirkende Strategie, die da lautet: «Ich oder das Chaos.» Macron, der sich durchaus weiter im Wahlkampf äussert, trotz aller Aufforderungen der Kandidaten seiner Partei und selbst des Premierministers, doch bitte zu schweigen, da seine silbernen Worte derzeit nur noch kontraproduktiv sind, wendet diese Masche fast tagtäglich an. Nach dem Motto: Ich und meine Partei sind die einzig Seriösen im Lande, daneben gibt es nur noch die beiden Extreme.
Dies ist eine bewusst verlogene, intellektuell unredliche und letztlich gefährliche Masche, die das Staatsoberhaupt da in seiner Hilflosigkeit strickt. Indem er die extreme Rechte und das linke Wahlbündnis «Le nouveau Front Populaire» in ein und denselben Sack steckt, macht er indirekt das «Rassemblement National» noch ein Stück mehr hoffähig.
Ja, es kommt langsam der Verdacht auf, Macron wolle, trotz aller gegenteiligen Lippenbekenntnisse, die extreme Rechte letztlich gar nicht wirklich verhindern. Denn die extreme Rechte und die vereinte Linke einfach über einen Kamm scheren, ist unredlich, ja hanebüchen.
Gewiss gibt es in der Linkspartei LFI einzelne, doch bei weitem nicht alle, deren Äusserungen und Positionen zu bestimmten Themen man als radikal und extrem bezeichnen kann. Dies aber ist noch lange kein Grund, das Wahlbündnis der Linken – wie Macron dies tut – insgesamt als extrem zu etikettieren. Denn: Von 577 Kandidaten stellt die zu Extremen neigende «La France Insoumise» 229, was bedeutet: Die drei anderen Parteien des Wahlbündnisses – sozialdemokratische Sozialisten, Grüne, und eine sehr geläuterte Kommunistische Partei – schicken fast zwei Drittel der Kandidatinnen und Kandidaten der «Neuen Volksfront» ins Rennen. Diese drei Parteien als extrem zu bezeichnen und sie mit dem rechtsextremen «Rassemblement National» auf eine Stufe zu stellen, ist barer Unsinn und macht gleichzeitig indirekt die Le-Pen-Partei noch ein Stück weiter hoffähig, stellt man sie doch mit Sozialisten, Grünen und Kommunisten auf ein und dieselbe Stufe.
Präsident Macron jedoch ging dieser Tage sogar noch einen Schritt weiter: Ausgerechnet am Rande einer offiziellen Zeremonie anlässlich des 80. Jahrestags von De Gaulles «Appel du 18 Juin», geisselte er auf der westfranzösischen Insel Sein das Programm der Linken als «immigrationistisch» – eine Vokabel, die bisher nur aus dem Mund der extremen Rechten zu hören war.
Das Staatsoberhaupt, das sich nun sogar die Sprache Le Pens und des «Rassemblement National» zu eigen macht, scheint wahrlich nicht mehr zu wissen, was tun.
Kann ein Fussballstar helfen?
Und noch ein Beispiel dafür, wie ernst die Lage im Land der Menschenrechte ist: Die sonst zu politisch- gesellschaftlichen Fragen streng schweigenden französischen Fussballprofis mischen sich nun ein.
Zunächst ergriff Marcus Thuram das Wort, der Sohn des legendären Rechtsverteidigers der Weltmeistermannschaft von 1998 und Menschenrechtsaktivisten Lilian Thuram. Er appellierte, unbedingt wählen zu gehen, und sagte wörtlich: «Die Lage ist sehr ernst. Man muss jetzt Tag für Tag dafür kämpfen, dass das nicht wieder geschieht und dass das ‹Rassemblement National› sein Ziel nicht erreicht».
Und Kylian Mbappé, der Weltstar mit über 100 Millionen Followern in den Sozialen Netzwerken und Kapitän der französischen Nationalmannschaft, zog nach. Bei der Abschluss-PK vor Beginn der Euro 2024 sagte der in der Pariser Vorstadt Bondy geborene 25-Jährige:
«Wir stehen an einem entscheidenden Moment der Geschichte unseres Landes. Man muss jetzt klar unterscheiden und Sinn für die Prioritäten haben. Ich möchte mich an das französische Volk wenden und vor allem an die junge Generation. Die Extremen können an die Macht kommen. Ich hoffe, dass meine Stimme so weit wie möglich trägt. Unsere Werte sind Vielfalt, Toleranz und Respekt. Jede Stimme zählt, das ist nicht zu vernachlässigen. Ich hoffe, dass alle eine gute Wahl treffen und dass wir weiterhin stolz sein können, das Trikot der französischen Nationalmannschaft zu tragen, denn ich möchte nicht ein Land repräsentieren, das mit meinen Werten nicht vereinbar ist.»
Vielleicht findet er bei einem Teil seiner riesigen Internet-Gemeinde ja Gehör. Das «Rassemblement National» jedenfalls scheint sich des möglichen Einflusses der Fussballnationalspieler bewusst zu sein und hat deren Einlassungen umgehend und in schärfsten Tönen kritisiert, nach dem plumpen Motto: «Schuster, bleib gefälligst bei deinen Leisten.»
Was nun ?
Die Verunsicherung, die Ängste und die Spannungen, die derzeit im Land herrschen, dürften – so die Prognose – auch nach den Parlamentswahlen nicht verflogen sein. Ja, aller Voraussicht nach könnte sogar das Gegenteil der Fall sein.
Denn das wahrscheinlichste Ergebnis am Abend des 7. Juli dürfte sein, dass es in der französischen Nationalversammlung erneut keine absolute Mehrheit für einen der drei Blöcke gibt, dass die vereinte Linke und die extreme Rechte dazugewinnen und das Zentrumslager von Macron kräftige Einbussen hinnehmen muss. Für Präsident Macron eine noch schlimmere Situation als bisher schon, eine Situation, die sich zu einer echten politischen Krise ausweiten könnte. Das Wort von der Unregierbarkeit Frankreichs macht bereits die Runde und erste Spekulationen über eine Expertenregierung, wie man sie etwa in Belgien oder Italien gekannt hat, machen die Runde. Das Staatsoberhaupt steht jedenfalls da wie einer, der an der Tankstelle mit Streichhölzern gezündelt und einen ordentlichen Brand gelegt hat. Und als einer, der nie wirklich auf die Frage, die sich ganz Frankreich stellt, wird antworten können: Warum eigentlich hat er das alles angerichtet?
Bei einer Gedenkveranstaltung für Widerstandskämpfer, die während der deutschen Besatzung von den Nazis als Geiseln gehalten und am Mont Valérien, vor den Toren von Paris, hingerichtet worden waren, mischte sich der Präsident unter eine anwesende Schulklasse von 10-Jährigen. Und selbst aus dieser Runde von Pennälern stellte einer, geschmückt mit einem schönen Französischfehler, die Frage: «Monsieur le Président, pourquoi avez-vous dissolu (sic) l’Assemblée Nationale?»
Der Präsident flüchtete sich bei seiner Antwort in Allgemeinheiten und zog von dannen.