Hat er unter Druck reagiert oder ist das sein eigener Wille? Die Kabinettsliste, die Irans neuer Präsident Massoud Pezeshkian am Sonntag vorlegte, enttäuscht alle, die mit ihrem Urnengang die Hoffnung verbanden, der ausgebildete Chirurg könne für ein bisschen mehr Luft zum Atmen, weniger Frauenunterdrückung und leichteren Internetzugang sorgen. Doch in dieser «Republik» bleibt alles beim Alten. Neu ist nur der mögliche Waffengang mit Israel.
Massoud Pezeshkian lügt nicht. Er hält sein Versprechen. Er werde sein Kabinett genau nach dem Willen des Führers zusammenstellen, wiederholte er unmittelbar nach seiner Wahl, unmissverständlich für jeden, der es hören wollte. Und am Sonntag löste der neue Präsident sein Versprechen vollständig ein. Ohne selbst im Parlament zu erscheinen, schickte er dorthin eine Liste mit 19 Namen; das seien die Minister seines Kabinetts. Diese Liste ist jedoch ein Attest seiner Vergesslichkeit: Pezeshkian hat offenbar vergessen, dass er während des kurzen Wahlkampfes etwas anderes gesagt hatte, für das er schliesslich gewählt wurde.
Die überwiegende Mehrheit der Iranerinnen und Iraner war beim ersten Wahlgang den Urnen ferngeblieben. Als Pezeshkian, dem der Ruf vorausging, er sei kein Dieb, mit einer neuen Sprache auftrat, konnte er einige Prozente mehr Wahlbeteiligung erzielen. Er wurde am Ende mit den Stimmen etwa eines Drittels der Wahlberechtigten gewählt. Das sind zwar alles offizielle Angaben, deren Wahrheit niemand garantieren kann. Doch es ist immerhin ein kleiner Erfolg, den man Pezeshkians zaghafter Kritik am Bestehenden zuschrieb.
Sehr vorsichtig hatte er den Umgang mit den Frauen kritisiert, ohne den Kopftuchzwang infrage zu stellen, die Aussenpolitik und die Isolation des Landes angeprangert, ohne auf antiisraelische Tiraden zu verzichten, und die grassierende Korruption angesprochen, ohne die Korruptionsquellen auch nur anzudeuten. Seine Wähler hatten sowieso nur sehr bescheidene Erwartungen. Man hoffte auf etwas weniger Gewalt gegen Frauen, eine kleine Verbesserung der Lebensverhältnisse und leichteren Internetzugang; kurzum: ein bisschen mehr Luft zum Atmen.
Denn niemand zweifelt daran, wer der eigentliche Herrscher im Land ist.
Zarifs Abschied
Doch mit diesen neunzehn Namen stellt der Chirurg Pezeshkian nicht nur eine Diagnose über seine eigene Vergesslichkeit, sondern auch über die Unheilbarkeit der gesamten Ordnung. Er diagnostiziert, dass an der Spitze dieses Systems ein Unverbesserlicher, ein fanatischer Starrkopf thront, der auf seinem Stuhl so fest zu sitzen glaubt, dass nichts und niemand ihn bewegen kann. Pezeshkian beweist mit seiner Kabinettsliste, dass Ali Khamenei machen kann, was er will – einerlei, was andere diagnostizieren oder ihm raten wollen.
Wenige Stunden nach Bekanntwerden der Liste teilte Javad Zarif per Twitter seinen Rücktritt als Vizepräsident mit. Der ehemalige Aussenminister, der das Atomabkommen mit den Weltmächten ausgehandelt hatte, war Pezeshkians Zugpferd. Er sollte verschiedene Zirkel und Gruppen konsultieren und mit ihnen gemeinsam Vorschläge für eine Kabinettsliste machen. Und er hatte für jeden Ministerposten fünf Namen präsentiert, darunter wie versprochen auch Frauen, Angehörige nationaler Minderheiten und vor allem von Sunniten, die mehr als ein Viertel der iranischen Bevölkerung stellen. Doch nichts von alldem: Pezeshkians Liste zeigt, dass selbst ein Sunnit wie Hamas-Führer Ismail Haniyeh, dessentwegen der Iran derzeit am Rande eines grossen Kriegs taumelt, keine Chance hätte, in der Islamischen Republik eine Stelle zu bekommen.
Bei seinen Vorschlägen hatte Zarif auch Khameneis «Sensibilität» berücksichtigt. Denn als ungeschriebenes Gesetz gilt, dass dieser die Schlüsselministerien Aussen, Innen, Geheimdienst sowie Verteidigung selbst bestimmt.
Mullahs in den Schlüsselministerien
Doch Pezeshkians Kabinettsliste besteht offenbar nur aus Schlüsselministerien. Khamenei lässt sich nichts entgehen. Die Liste zeigt zudem, dass man falsche Hoffnungen in Pezeshkian gesetzt hatte; sie macht klar, dass die Erwartungen, die manche an ihn hatten, Wunschdenken waren, dass dieser Chirurg zuallererst ein tiefgläubiger Mensch ist, dessen Weltbild sich nicht wesentlich von dem des Revolutionsführers unterscheidet. Es genügt, einen kurzen Blick auf die Namen jener zu werfen, die er für die Posten Kultur, Bildung und Hochschulbildung vorgeschlagen hat. Denn sie offenbaren, dass Pezeshkian tief in der Vergangenheit lebt und denkt.
Während des Wahlkampfes hat er ständig den Koran rezitiert und religiöse Überlieferungen wiederholt; auch wenn er etwas zu kritisieren hatte. Nun zeigt seine Ministerliste, dass er mehr Prediger ist als Politiker, mehr in der schiitischen Gelehrsamkeit verankert ist als in der modernen Bildung, die er an der Uni genossen hat.
Alle drei Minister, die Pezeshkian für Kultur, Unterricht und Hochschulbildung gewählt hat, sind Mullahs. Sie tragen zwar keine Turbane, haben aber ihre Bildung in den schiitischen Seminaren zu Ende gebracht. Ihre Karriere in den dunklen, mafiösen Kanälen der Macht verdanken sie ihrem Aufstieg in jenen Seminaren, die ausschliesslich dafür eingerichtet sind, politisierte Geistliche heranzuzüchten, damit diese als Staatsfunktionäre den wahren islamischen Staat realisieren – koste es, was es wolle. Warum künftig ein Mullah die Hochschulpolitik des Landes bestimmen soll, versteht man erst, wenn man bedenkt: Über 60 Prozent der Studierenden im Iran sind Frauen und die Frauenfrage überschattet spätestens seit dem Zeitalter «Frau, Leben Freiheit» die Gesamtpolitik dieser «Republik». Warum ein Mullah die künftige Film-, Theater- und Buchpolitik bestimmen soll, erklären die diversen Filmfestivals dieser Welt, auf denen exilierte Filmemacherinnen aus dem Iran regelmässig und reihenweise ihr Schicksal beklagen. Und um zu verstehen, warum ein Mullah künftig die gesamte Schulbildung des Landes bestimmen soll, dafür genügt ein Blick auf die renitente Atmosphäre an den Schulen des gesamten Landes.
Die Superblamage
Doch diese Kabinettsliste offenbart zugleich, wie begrenzt Khameneis Spielraum ist. Nur ein Beispiel: Sein neuer Geheimdienstminister Ismail Khatib ist der alte. Nach der Verfassung dieser «Republik» muss der Geheimdienstminister ein hochgestellter Geistlicher, ein Mojtahed – also eine «Quelle der Nachahmung» – sein. Ob das, was in den Folterkammern des Geheimdienstministeriums passiert, nachahmenswert ist, sei dahingestellt. Khatib trägt zwar einen Turban, aber er hat sein ganzes Erwachsenenleben bei den Geheimdiensten verbracht. Als Chef der Spionageabwehr hat er die grösste Blamage und Blossstellung dieser Republik zu verantworten: die Tötung von Hamas-Führer Haniyeh in einem der bestgeschützten Viertel Teherans. Eine beispiellose Schande, die den Iran an den Rand eines grossen Kriegs katapultiert hat.
Doch Khatib bleibt. Wenige Stunden nachdem bekannt wurde, dass er auch auf Pezeshkians Kabinettsliste steht, rühmte er sich für viele konterrevolutionäre Verschwörungen, die er vereitelt hätte. Und sein neuer Staatspräsident muss möglicherweise einen Waffengang mit Israel managen, der den Bestand des Ganzen gefährdet. Merkwürdige Massstäbe in dieser eigenartigen «Republik».
Mit freundlicher Genehmigung von IranJournal