Zurück zu hybrider Herrschaft? Hier der allmächtige, ewige Führer, dort der gewählte Präsident: Das Modell Raisi war ein Desaster in jeder Hinsicht. Nun soll ein einsamer Kritiker, an dessen Systemtreue niemand zweifelt, das Ruder übernehmen. Kann es ihm gelingen?
Er habe immer einsam und ohne Vernetzung agiert, schrieb die Teheraner Tageszeitung «Etemad» am Mittwochnachmittag in ihrer Online-Ausgabe. Wenige Stunden zuvor hatte das iranische Parlament dem Kabinett des neuen Präsidenten sein Vertrauen ausgesprochen, sogar der einzigen Frau, die Pezeshkian als Transportministerin vorgesehen hat. Fast geräuschlos war die zweitägige Debatte, in der über einzelne Kandidaten gestritten wurde, über die Bühne gegangen – einmalig in der Geschichte der Islamischen Republik, zumal die Mehrheit in diesem Parlament der Fraktion der «Betonköpfe» angehört. Warum und wie es ihm trotzdem gelang, seine Mannschaft durchzubringen, gehört zu der gleichen Strategie, mit der Pezeshkian Präsident geworden ist.
Doch zunächst stellt sich die Frage: Wie kann jemand mit diesen Eigenschaften erfolgreich sein, zumal in einer Gesellschaft, in der man sogar für das kleinste Alltagsproblem auf Beziehungen und Patronage angewiesen ist, jemanden kennen muss, der jemanden kennt – egal, worum es geht.
In seinem politischen und privaten Leben hat Pezeshkian es tatsächlich irgendwie geschafft, «unabhängig» zu bleiben. Er bezeichnet sich selbst weder als اصلاح طلب, also als Reformer, noch als اصولگرا, Prinzipientreuer also, wie sich die Hardliner nennen. Als er einmal im Parlament eine relativ radikale Rede gegen das Vorgehen der Sittenwächter gegenüber Frauen hielt, lobten den entmachteten Reformern nahestehende Medienportale ihn so sehr, dass er in einem Interview einen Satz sagte, der bis heute immer wieder wiederholt wird: صد بار گفتهام و باز هم میگویم که اصلاحطلب نیستم – «Hundertmal habe ich es gesagt und ich wiederhole es nochmal: Ich bin kein Reformer.»
Anders als alle anderen?
Das Wundersame ist, dass Pezeshkian in einer Gesellschaft Präsident geworden ist, deren Struktur auf mafiöser Vetternwirtschaft und Schiebung aufgebaut ist. Ohne Protektion und Netzwerke ist es in dieser «Republik» unmöglich, an irgendeinen Posten zu kommen, selbst auf unteren Ebenen des Staatsapparats. Nicht einmal in seiner Heimatstadt Täbriz, wo Pezeshkian Universitätspräsident war und die er seit 16 Jahren im Teheraner Parlament vertritt, hat er ein grosses Netzwerk. Auch ist er in diesem System nicht reich geworden, sondern hat von dem gelebt, was er als Chirurg verdient hat.
Trotz zahmer Kritik an den Zuständen hat er jedoch nie Zweifel daran gelassen, dass er nicht am System der ولایت فقیه – der Herrschaft der Rechtsgelehrten – zweifelt. Auch daran nicht, dass er innerhalb dieser Ordnung weder die Position noch die Politik «des Führers» jemals einschränken wolle. Im Gegenteil: Stets betonte und betont er, Ali Khamenei habe das letzte Wort – und zwar in allen Angelegenheiten. Bei der Vertrauensdebatte über sein Kabinett geschah etwas sonderbar Spektakuläres. Fast alle Minister waren durch, als die «Betonköpfe» es ihm dann trotzdem nicht ganz so leicht machen und zwei seiner vorgeschlagenen Minister zu Fall bringen wollten. Da trat Pezeshkian auf und stellte klar, Khamenei habe alle seine Kandidaten abgesegnet. Und damit war die Luft raus.
Genau das ist der Unterschied zwischen Pezeshkian und allen seinen Vorgängern, die schliesslich an Khamenei gescheitert sind: Rafsanjani, Khatami, Rohani, ja, selbst Ahmadinejad haben immer zu verstehen gegeben, dass sie Khamenei als eine Art Bremse für ihr Programm betrachten. Sie alle fielen später in Ungnade. Ibrahim Raisi war dabei eine Ausnahme: Mit ihm wollte Khamenei die hybride Herrschaftsdualität – hier der ewige Führer, dort der gewählte Präsident – beenden und jemanden als Präsidenten installieren, der ihm vollkommen folgt. Raisi war ein Untergebener, ohne Wenn und Aber.
Zwei Hauptgründe
Doch dieser Plan war tot, und zwar nicht erst mit dem Absturz des Präsidentenhubschraubers, sondern mit der Unfähigkeit von Raisis dilettantischer Mannschaft. In den vergangenen drei Jahren haben sich die innen- und aussenpolitischen Probleme dieser «Republik» zu einem so grossen, fast unüberwindbaren Berg aufgetürmt, dass viele Soziologen sogar vom Zerfall der Gesellschaft sprechen.
Zwei Hauptgründe sind zu nennen, warum Khamenei nun umgeschwenkt und offenbar zu der Einsicht gekommen ist, seinen Plan für die totale Homogenisierung der Herrschaft aufgeben zu müssen. Zum einen war ihm seinerzeit nicht entgangen, dass nur etwa ein Drittel der Stimmberechtigten für Raisi gestimmt hatte, während die überwiegende Mehrheit den Urnen ferngeblieben war. Die Stimmenzahl für Pezeshkian lag zwar etwas höher, doch die Mehrheit der Iraner und Iranerinnen lehnt selbst offiziellen Angaben zufolge die Islamische Republik weiterhin ab. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die unlösbar scheinenden Wirtschaftsprobleme, die Konflikte mit dem Ausland bis hin zu einem drohenden Krieg mit Israel und den USA – all diese Gefahren wachsen rapide. Und mit Raisi wäre es noch schlimmer geworden. Vielleicht könnte ein zahmer Kritiker für eine andere Stimmung sorgen, ist die naheliegende Überlegung.
Pezeshkian ist also der personifizierte Versuch einer Rettung aus der Sackgasse. Mit ihm, der für sein sporadisches Anecken bekannt ist, das Sakrosankte an der Spitze dieser «Republik» aber nie in Frage stellt, könnte etwas Ruhe eintreten, für eine andere Stimmung gesorgt werden, so offenbar die Kalkulation des mächtigsten Mannes des Landes.
Doch der zweite, ebenso wichtige Grund, warum Pezeshkian Präsident werden konnte, liegt eben darin, dass er nicht vernetzt ist, keiner Gruppe angehört. Denn wenn eine Kritik auch nur den Anschein hat, als stünde eine Organisation oder ein Netzwerk dahinter, wird sie schon im Ansatz erstickt. Beispiele dafür gibt es genug: Man duldet keine Sufi-Orden, obwohl diese seit Hunderten von Jahren im schiitischen Denken verankert sind. Man beendete gewaltsam die Arbeit einer NGO, die sich «Imam Ali Foundation» nannte und sich um Strassenkinder kümmerte.
«Ich bin plan- und ahnungslos»
Kann der Versuch mit dem Einsiedler Pezeshkian gelingen? Offen hat dieser immer wieder betont, er habe kein Programm, keinen genauen Plan, wie das Land im Inneren und nach aussen auf normale Bahnen zu bringen sei; er habe auch keine Ahnung, weshalb er Fachleute rekrutieren wolle. Pezeshkians Minister sind zum grossen Teil eine Auswahl aus vorangegangenen Regierungen. Deshalb gab er seiner Regierung den Namen وفاق ملی, nationale Verständigung. Doch gehören seiner Mannschaft Fachleute an, die in der Vergangenheit etwas erreicht hatten und jetzt das Ausmass der katastrophalen Lage erkennen. Können sie auch Grundsätzliches erreichen? Das ist eine noch offene Frage.
Pezeshkians neuer Aussenminister Abbas Araghchi, der sich in seiner Karriere stets als hundertprozentiger Khamenei-Mann präsentiert hat, sagte bei seiner Ernennung am Mittwoch, seine Aussenpolitik sei nichts anderes als die Durchsetzung von Khameneis Willen: Die unbedingte Unterstützung der «Achse des Widerstands» gehöre ebenso dazu wie der Kampf gegen das «zionistische Gebilde». Und die Spannungen mit den USA wolle er «managen», was auch immer das heissen mag; mit Europa werde es eine Verständigung geben, wenn die EU ihre Feindschaft gegenüber der Islamischen Republik aufgebe.
Fast zur selben Zeit, als Araghchi im Parlament seine Pläne für die Zukunft darlegte, schloss eine Spezialeinheit der Polizei das letzte von der deutschen Botschaft zertifizierte Deutsch-Institut im Iran. Maskierte Polizisten versiegelten die Büros und notierten sich die Personalien der Schüler und Schülerinnen, Betroffene sprechen von einem gewaltsamen Vorgehen der Polizei. Die Mehrheit der Deutschlernenden waren offenbar Krankenpfleger. Sie wollten in dem Sprachinstitut die Zertifikate B1 und B2 erwerben, die für eine Arbeitsaufnahme in Deutschland obligatorisch sind. Derzeit befinden sich die Krankenpflegekräfte in vielen Teilen des Iran im Streik.
Der neue Gesundheitsminister ist ein Freund von Pezeshkian und wie der Präsident selbst Chirurg. In seiner ersten Stellungnahme hat er Besserung versprochen. Auf solche Besserung warten nicht nur die Krankenpfleger, sondern das gesamte Land, ja, die ganze Region.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal