An diesem Freitagabend ist es so weit: Paris wird den Startschuss zu den XXXIII. Olympischen Spielen der Neuzeit geben. In einer angespannten und turbulenten Atmosphäre, in der von Olympischen Frieden reichlich wenig zu spüren ist.
Es ist eine kuriose Situation. An diesem Freitagabend wird sich ein durch das Ergebnis der jüngsten Parlamentswahlen schwer angeschlagener französischer Präsident, derzeit ohne Regierung, im Glanz einer extravaganten Eröffnungszeremonie sonnen, die er angeblich höchstpersönlich gefordert hatte und die durchaus zu ihm passt, nach dem Motto: Wir zeigen, was wir können. Und: Koste es, was es wolle. Denn dieser Satz Macrons aus Coronazeiten darf erneut bemüht werden. Satte 120 Millionen Euro soll allein diese Eröffnungszeremonie verschlingen, die seit Monaten von den Machern als «das grösste Spektakel der Welt» angekündigt wird.
Feier auf dem Fluss
Diese edle Kreation wird natürlich nicht etwa in einem schnöden Stadion über die Bühne gehen, sondern ganz einfach – alle Sicherheitsexperten raufen sich seit Monaten so sehr die Haare, dass sie schon fast keine mehr auf dem Kopf haben – mitten in Paris.
Unterwegs auf der Seine
Als Kulisse des Defilees der Athleten dienen die historischen Gebäude und Plätze, über die die französische Hauptstadt nun einmal zuhauf verfügt.
Und das Ganze wird nicht etwa auf freigeräumten Strassen oder auf den Champs-Elysées zelebriert – nein, bitteschön, auf der Seine, dem Fluss, der sich durch Paris windet und dessen Wasser angeblich wieder so sauber ist, dass man darin baden kann, bzw. die olympischen Naturwasserschwimmer darin kämpfen lassen kann. 1,4 Milliarden Euros hat es gekostet, um das Seine-Wasser auf einen akzeptablen Reinheitsgrad zu bringen.
Drei Krankenhäuser hätte man dafür bauen können, knurrte dieser Tage einer am Tresen eines Pariser Bistros. Wie auch immer: Seine Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, ist für die Kameras aus aller Welt höchstselbst in die trüben Fluten eingetaucht und hat befunden: «Elle est bonne.»
Die badende Bürgermeisterin
Ausgerechnet sie, die sich vor über zehn Jahren mit Haut und Haaren gegen die Vergabe der Spiele an ihre Stadt gewehrt hatte, bevor sie vor ihrem Parteigenossen und damaligen Staatspräsidenten, François Hollande, hatte klein beigeben müssen. Er wollte die Spiele und so sollte es sein.
Jetzt spielt die Bürgermeisterin ihre Rolle perfekt: Sie vollzog eine fulminante Kehrtwende und seitdem gibt es keine engagiertere Verfechterin der olympischen Sache als Madame Anne Hidalgo, die sich, wie Präsident Macron, mit allen Mitteln in der vordergründig so friedlichen olympischen Sonne räkeln möchte.
Die Bootsfahrt
Anstatt also einfach in ein Stadion einzumarschieren, dürfen die rund 7’000 Athleten dieser 33. Olympischen Spiele Boot fahren, werden auf Dutzende Schiffe verfrachtet und tuckern sechs Kilometer lang von Ost nach West die Seine entlang, sozusagen vom einst eher proletarischen Paris in das Paris der Reichen und Superreichen. Endstation: Der Pont Alexandre III und zur Rechten das Trocadero und der Eiffelturms. Diesen pompösen, neoklassizistischen Bau, der an die Architektur des italienischen Faschismus in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erinnert, hat man also als Schlusspunkt gewählt .
Das ganze, fast vierstündige Defilee der mit Athleten beladenen Schiffe hat es in sich. Bewacht und umkurvt von Dutzenden Schlauch- und anderen Booten mit durchtrainierten Sicherheitsbeamten an Bord, aus der Luft überwacht und geschützt durch Drohnen, unter den zahlreichen Brücken hindurch, auf denen das Spektakel toben wird (3’000 Tänzer und Musiker sind engagiert) und bestaunt von über 300’000 Zuschauern, die sich überwiegend oberhalb der Uferstrasse drängen werden, sofern sie es geschafft haben, die Sicherheitskontrollen zu passieren, und die am Ende vielleicht recht wenig bzw. gar nichts zu sehen bekommen.
Diejenigen, die auf den Tribünen nahe des Ufers Platz nehmen dürfen, mussten dafür tief in die Tasche greifen. Die besten Plätze kosteten gar 2’700 Euros.
Während dieses «grössten Spektakels der Welt» werden die Verantwortlichen für die Sicherheit ein paar Stunden lang zittern und Blut schwitzen, ob unter den Augen der gesamten Welt auch wirklich alles problemlos über die Bühne gehen wird.
Im Vorfeld dieser Olympischen Spiele war von Sicherheit mindestens so viel die Rede wie von den sportlichen Leistungen, die man sich erhofft. Die Sicherheit, über die der Innenminister bereits seit einem guten Jahr nicht müde wird sich auszubreiten, ist für die Dauer der Spiele symbolisiert durch die fast 50’000 Absperrgitter, die schon seit Tagen in der Stadt verteilt sind und das sich freie Bewegen schlicht unmöglich machen – ganz besonders an den Orten, zu denen es Touristen normalerweise hinzieht: Zwischen Louvre und den Champs-Elysées z. B. geht seit Tagen so gut wie gar nichts, die Rue de Rivoli ist leergefegt, als wäre man in den schlimmsten Wochen der Coronazeiten.
Die doppelstöckigen Touristenbusse können ihren Fahrgästen eine ganz Reihe von Monumenten, darunter die Pyramide des Louvre, einfach nicht mehr zeigen, weil auch für sie alles verbarrikadiert ist. Frankreichs Hauptstadt ist, schon Tage vor Beginn der Spiele zwischen Nord und Süd zweigeteilt – Rive gauche, Rive droite.
Denn um von einem zum anderen Seineufer zu gelangen, muss man die wenigen noch offenen Brücken erst einmal finden. Ausserdem sind mehr als ein Dutzend Metrostationen schon seit Anfang Juli permanent geschlossen, täglich kommen neue hinzu oder werden andere wieder geöffnet.
Paris und die Fassaden der Bürgerhäuser, herausgeputzte Gebäude und Plätze werden nicht nur bei der Eröffnungszeremonie im Zentrum stehen, einige der historischen Gebäude und Plätze dienen sogar als Austragungsorte .
Am prestigeträchtigsten haben es die Fechterinnen und Fechter erwischt: Sie kämpfen unter der gigantischen Glaskuppel des rundrenovierten «Grand Palais» um die Medaillen.
Und auf der Place de la Concorde, wo einst ein König (und später dessen Frau) geköpft wurden, tummeln sich in einem provisorischen Stadion zwei Wochen lang die Cracks im Breakdance, Freestyle BMX oder Skateboarden.
Der traditionelle Schlusspunkt der Olympischen Spiele, der Marathonlauf, wird schliesslich hinaus nach Versailles führen – wo die Kulisse des Königsschlosses, weil es eben mal so gut passt zum Flair der Sportart, auch für die Reitwettbewerbe herhalten wird – und wieder zurück nach Paris unter den Eiffelturm.
Erinnern, so die Veranstalter, soll dieser Parcours an den so genannten «Marsch der Frauen». Im Oktober 1789 hatten sich mehrere tausend Hungernde von Paris aus auf den Weg zum Königsschloss in Versailles gemacht, um unter den Fenstern von König und Königin lautstark nach Brot zu rufen.
Königin Marie-Antoinettte, die vier Jahre später auf dem «Platz der Eintracht» Geköpfte, soll daraufhin den unglücklichen Satz ausgesprochen haben: «Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie halt Brioche essen.»
Ach ja, weil Frankreich eben Frankreich ist und noch Spuren eines Reiches mit sich herumschleppt, in dem die Sonne auch unter dem Sonnenkönig des 21. Jahrhunderts nie untergeht, hat man die Surfwettbewerbe nicht etwa einfach an die Atlantikküste bei Biarritz übergeben, sondern sie in 18’000 Kilometer Entfernung in Tahiti angesiedelt.
Fest der Freude ?
Werden Frankreich und vor allem Paris bis zum 11. August also ein Fest der Freude erleben?
Nach einer letzten Meinungsumfrage darf man skeptisch sein. 36% der Franzosen und Französinnen lässt das Weltereignis gleichgültig, 24% sind beunruhigt und 5% sogar wütend darüber, dass die Spiele in Frankreich abgehalten werden. Begeisterung und Vorfreude sehen anders aus.
Auch der etwas barsche Betreiber einer stattlichen Brasserie unweit des Pariser Südbahnhofs «Gare de Lyon» ist skeptisch, wartet auf Kundschaft, die im Vorfeld der Spiele ausgeblieben ist, und schimpft hemmungslos auf all diejenigen, die in den vergangenen Monaten für horrende Hotel- oder Appartementpreise in Paris gesorgt und so eventuell Besucher vergrault haben. «Diese Typen haben sich gedacht, all die Ausländer seien einfach Melkkühe. Von wegen. Heute ist man schliesslich gut informiert. Für unser Image in der Welt ist das allerdings eine Katastrophe.»
Er wartet bis zum Samstag, wenn alles wirklich begonnen hat. Erst dann werde er sagen können, ob die Welt wirklich nach Paris gekommen ist. «Là, on va voir si on travaille ou pas.»
Draussen sitzt einer aus Paris bei seinem dritten Café und grummelt: «Die Judowettbewerbe hätten mich interessiert – aber 420 Euro für ein Ticket, das ist doch der pure Wahnsinn.»
Trotzdem wurden angeblich 8,7 Millionen Tickets verkauft – mehr als bei allen anderen Olympischen Spielen zuvor.
Was die Gesamtkosten dieser Spiele angeht, so herrscht ein dichter Nebel. Selbst der oberste Rechnungshof des Landes musste zugeben, dass der olympische Zahlenwirrwar derartig komplex sei, dass auch seine Experten nicht zuverlässig sagen können, wie viel das Ereignis den französischen Steuerzahler am Ende kosten wird. Was man so kolportiert: 8 bis 10 Milliarden, anstatt der anfangs verkündeten 2 Milliarden.
In Abwesenheit so mancher Stars
Übrigens, Eröffnungsfeier an diesem Freitagabend hin oder her: Olympia 2024 hat bereits begonnen. Mit, zugegeben, reichlich un-olympischen Wettbewerben wie Rugby oder Fussball. Natürlich fehlten in der französischen Fussballmannschaft, die mit 3:0 siegte, die grossen Stars. Die Vereine, die den Herren Mbpappé und Co. monatlich Millionengehälter bezahlen, haben ihre Stars schlicht und einfach nicht freigegeben .
Doch auch andere Sportarten müssen auf ihre Aushängeschilder verzichten. Etwa der Radsport. Von einem Tag auf den anderen erklärte der Tour-de-France-Sieger 2024, Tadej Pogacar, er sei nach den jüngsten Anstrengungen einfach zu müde, um bei Olympia in die Pedale zu treten, und werde sich auf die Weltmeisterschaften vorbereiten.
Auch der naivste Radsportfan brach daraufhin in Gelächter aus. Der Grund für Pogacars Absage liegt mit grösster Sicherheit anderswo, nämlich bei den Dopingkontrollen, die bei den Olympischen Spielen praktiziert werden. Sie sind weit seriöser als diejenigen, die der internationale Radsportverband UCI mittlerweile von einer ziemlich namenlosen Privatfirma vornehmen lässt.
Macron im olympischen Licht
Präsident Macron glaubt offensichtlich immer noch felsenfest daran, dass Olympia sein ramponierts Image wieder aufbessern könnte.
Da hat einer die von ihm höchstselbst und im Alleingang ausgelösten Parlamentswahlen drei Wochen vor Beginn der Spiele krachend verloren, was ihn nicht daran hindert, vor den Kameras der Welt so zu tun, als sei nichts geschehen.
Erst am Donnerstag umgab er sich mit den 40 mächtigsten Wirtschaftsbossen der Welt, unter ihnen die Chefs von Tesla oder Coca Cola, um wieder einmal zu demonstrieren, dass sein Frankreich für ausländische Investoren nach wie vor von grösstem Interesse ist.
Und bei seinem ersten Fernsehinterview nach der Wahlschlappe hat er dem Ganzen noch eins draufgesetzt und eine «trève politique» verkündet, mit anderen Worten den berühmten olympischen Frieden (trève olympique) dazu missbraucht, um weiter Zeit zu gewinnen, was die Bildung einer neuen Regierung angeht. Und da nach Ende der Olympischen Spiele immer noch August ist und Frankreich in den Ferien, setzt Macron auch noch auf die «trève de vacances». Die satirische Wochenzeitung «Canard Enchainé» nannte dies ein «politisch-olympisches Prokrastinieren».
Vielleicht hofft der Präsident während der fast vierstündigen Zeremonie auf und über der Seine zur Eröffnung der Spiele dann auch noch, dass die Devise der Hauptstadt Paris auch auf ihn zutreffen könnte. «Fluctuat nec mergitur» – von den Wellen umspült, doch sie sinkt nicht .