Betrachtungen zum gemächlichen Reisen in hektischer Zeit
Man ist unterwegs in Europa, mit Zug, Auto und Velo, mit fahrbaren Häusern auf Strassen, Flüssen und Kanälen, man ist zu Fuss auf Wanderschaft, mit oder ohne "Esel" für den Gepäcktransport.
Frankreich, das seine Kanäle nur noch halbherzig liebt, hat zumindest einen Vorteil dieser jahrhundertealten Infrastruktur wiederentdeckt. Die alten Treidelwege wurden sukzessive asphaltiert und als europäische Wander- und Velorouten deklariert.
Geschwindigkeiten
An der Burgundischen Pforte zum Beispiel, der Wasserscheide zwischen dem Doubs und dem Rhein, toben sich an den Wochenenden entlang des Canal du Rhône au Rhin Bewegungsfetischisten jeglichen Alters aus. Wo früher ein Spaziergang auf den Treidelwegen einem Gang durch den Urwald glich, man sich zur unendlichen Freude des Bordhundes seinen Weg durch das hohe Gras, zwischen Brennnesseln und wild wachsenden Haselsträuchern suchen musste und höchstens hie und da einen Fischer antraf, der vor seinen an speziellen Halterungen befestigten mindestens fünf Fischerruten eingenickt war, finden heute gleichzeitig sowohl Familienausflüge mit Trottinettes und Kinderwagen als auch richtige Verfolgungsrennen auf Rennvelos oder Inlineskates statt. Unnötig zu sagen, dass die unterschiedlichen Tempovorstellungen der Wegbenutzer manchmal zu aufregenden Begegnungen und Wortgefechten führen und den Hundebesitzern die andere, im Urzustand belassene Kanalseite empfohlen werden muss.
Infrastruktur
Fährt man mit dem Schiff gemächlich dem Kanal entlang, lässt sich vortrefflich der menschliche Erfindungsgeist bewundern. Vor allem die sich voll auf die Muskelkraft Verlassenden scheinen über eine unendliche Fantasie zu verfügen, wenn es um die Erweiterung des Konzepts ‚Velo’ geht. Liegevelos, auch wenn sie in Gruppen von zwanzig oder mehr daher brausen, sind unterdessen schon fast normal. Doch für den Gepäcktransport werden Velos in wahre Kunstwerke verwandelt, von denen auch indische Velotransporteure noch Neues lernen könnten. Taschen seitlich von Vorder- und Hinterrad, auf vorgesetztem Lastaufbau oder kurzgekoppeltem Anhänger, mit wunderbar farbigen Überzügen gegen den Regen geschützt (leider kein Luxus in diesem Sommer), Tandems mit bis zu fünf Personen oder als Kombination „Liegevelo vorne, normales Velo hinten“, eine Erfindung, denke ich, welche dank Abwechslung zur Erholung besonders strapazierter Körperteile von grossem Vorteil sein muss, kurz, man kommt kaum nach mit Schauen und muss aufpassen, dass man vor lauter Staunen das Schiff nicht ins Kanalbord steuert.
Wer unterwegs ist, braucht eine Infrastruktur, das haben schon unsere Vorfahren entlang der Alpenpässe gewusst. Man will essen, schlafen und – ganz besonders die Muskelarbeiter – sich abends den Schweiss vom Körper waschen. Auch hier haben die Franzosen – und nicht nur sie – innovative Konzepte entwickelt und kombinieren zur besseren Rendite der Infrastruktur immer öfter die verschiedenen Reisemethoden: Der Caravanpark wird neben dem Hafen am Kanal gebaut und mit einfachen Übernachtungsmöglichkeiten für Velofahrer und Wanderer ergänzt. So treffen sich die verschiedenen Nomadengruppen Europas zur Befriedigung der gemeinsamen Bedürfnisse: Stromanschlüsse für Wohnmobile und Schiffe, Wasser zum Füllen der bordeigenen Tanks, Entsorgungscontainer für Abfall, Flaschen und Papier, WC-Anlagen und – bei schönem Wetter am meisten begehrt – Duschkabinen, welche mit Geld, Jetons oder einem Code zu bedienen sind und eine wohl dosierte, meistens zu kleine Menge warmen Wassers spenden.
Duschen
Als wir kürzlich in einem Hafen, dessen Namen wir aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verschweigen wollen, wegen des hochgehenden Doubs einen Ruhetag einlegten, hatten wir, ob wir es wollten oder nicht, von unserem Schiff aus sozusagen einen intimen Blick auf ein kleines Holzgebäude auf einem Caravanpark jenseits der Strasse. Drei kleine Türen an der dem Kanal zugewandten Seite, lagen direkt und ohne ein vor dem Regen schützendes Vordach an einem Weg, auf dem gegen Abend ein emsiges Treiben herrschte. „Innerer Dienst“ sagte man dem, als ich noch Mitglied der Schweizer Armee war, was sich hier abspielte.
Da hatten beispielsweise zwei jüngere Burschen, von Schweiss und Regen offensichtlich innen und aussen durchnässt, eben ihre hochbepackten Velos abgestellt und eine der drei Türen geöffnet. Was sie dort sahen, musste offensichtlich eine gewisse Ratlosigkeit ausgelöst haben. Nach kurzer Diskussion begann sich der eine in Windeseile, mitten im Regen, bis auf die Unterhosen auszuziehen und verschwand hinter der Türe. Wenige Sekunden später streckte sich, die Unterhose festhaltend eine Hand durch den Türspalt dem draussen wartenden Kollegen entgegen. Danach begann sich auch dieser zu entkleiden, radikaler als der erste, und hüllte sich in ein Badetuch. Schneller Austausch des offenbar einzigen Badetuchs unter der Tür, dann verschwand der Zweite hinter der kleinen Tür, wohl mit der Hoffnung, die gekaufte Duschzeit würde auch ihm noch warmes Wasser bescheren.
Planungsfehler
Ähnliche Szenen spielten sich vor den drei kleinen Türen im Laufe der nächsten Stunden in unterschiedlichster Besetzung ab, doch das Vorstellungsvermögen von Leserin und Leser wird keine weiteren Schilderungen benötigen. Nur eines noch: Dank eigener Erfahrung meine ich zu wissen, was sich hinter den kleinen Türen verbarg: Ein kleiner Raum, vielleicht ein Quadratmeter gross, an der einen Wand eine Dusche mit einem verkalkten Brausekopf, welcher das Wasser in alle Richtungen, nur nicht auf den Duschenden, verteilt und in der Duschkabine nicht den kleinsten Flecken trocken lässt, nicht einmal ein Badetuch oder eine Unterhose, für deren Befestigung vermutlich ohnehin kein Haken zur Verfügung stünde.
Falls Sie, liebe Leserin, lieber Leser, jetzt seufzend denken „Solche Probleme möchte ich auch haben“, so gebe ich ihnen vollkommen Recht. Wenn wir uns schon ohne Not zu modernen Vagabunden machen, so sind dies doch alles Lächerlichkeiten. Tatsächlich gibt es auf dieser Welt viele Menschen, die aus wirklichen Gründen unterwegs sind, zum Beispiel weil sie aus ihrer Heimat vor Gewalt oder wirtschaftlicher Not fliehen mussten. Die Gedankenlosigkeit von Administratoren und Planern haben für sie weit schwerere Konsequenzen als die harmlose Fantasielosigkeit von Erbauern von Duschanlagen auf den Zeltplätzen des satten Teils dieser Welt. Es mag sein Gutes haben, dass auch wir manchmal Opfer von Planern werden, welche die Konsequenzen ihres Tuns nicht am eigenen Leib erfahren müssen. Vielleicht weckt das ein bisschen unser Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen über das, was die aus der Not bedingte Wanderschaft an Unbill mit sich bringt. Hoffen wir also auf den Lerneffekt falsch konzipierter Duschkabinen.