Auslöser für die Protestwelle war die Publikation des bereits im Oktober erlassenen Urteils des Verfassungsgerichtes. Damit trat das Urteil in Kraft. Darin hatte das von Gefolgsleuten der herrschenden rechtskonservativen PiS (Recht und Gerechtigkeit) dominierte Gericht das geltende, sonst schon sehr restriktive Abtreibungsgesetz deutlich verschärft. Es erklärte die bisher erlaubte Abtreibung eines stark geschädigten Fötus für verfassungswidrig. Nur bei Vergewaltigungen, Inzest und einer Lebensbedrohung der Mutter sollten Abtreibungen noch erlaubt sein. Dies hatte trotz Corona massive Proteste ausgelöst
Hinhaltetaktik der Regierung
Die Regierung setzte in der Folge das Urteil noch nicht in Kraft. Man wolle die schriftliche Begründung abwarten. Damit sollte wohl vor allem Zeit gewonnen werden, bis die Proteste wieder einschlafen würden. Tatsächlich gingen die Demonstrationen bereits im November deutlich zurück. Die Polizei ging auch entschlossener und teilweise sogar gewaltsam gegen die Proteste vor, die sie wegen der Corona-Regelungen als illegal bezeichnete.
Die Demonstrationen wurden Mitte Januar wieder aufgenommen, allerdings mit geringer Beteiligung. Das dürfte mit ein Grund gewesen sein, dass letzten Mittwoch das Verfassungsgericht die schriftliche Urteilsbegründung veröffentlichte. Die Regierung publizierte dann am Abend umgehend das Urteil in der Gesetzessammlung, womit die Regelung in Kraft trat.
Anschwellende Proteste
Bereits am Mittwochabend kam es in vielen Städten zu spontanen Protestdemonstrationen. Vor allem in Warschau war die Beteiligung schon beachtlich, es wurden auch wichtige Verkehrsachsen im Zentrum blockiert. Am nächsten Abend setzten sich die Proteste fort. Der „Gesamtpolnische Streik der Frauen“ übernahm Koordinations- und- Organisationsfunktionen. Nicht nur in grossen Städten wurde demonstriert, auch in kleineren Städten kam es zu Protesten. Grossmehrheitlich beteiligen sich junge Frauen daran. In Warschau zog die Demonstration auch vor das Verfassungsgericht, wo es zu kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei und über ein Dutzend Verhaftungen kam. Die Demonstrierenden wurden eingekesselt und mussten sich registrieren lassen.
Am Freitagabend gab es in Warschau eine grosse Demonstration, zu der auch TeilnehmerInnen aus andern Städten anreisten. Reporter berichteten von vielen Tausenden, denen ein massives Polizeiaufgebot gegenüberstand. Teilweise wurde Tränengas eingesetzt und es kam erneut zu Verhaftungen und einigen Rempeleien. Grössere Auseinandersetzungen blieben aber aus. Es zeigten sich einige prominente Oppositionspolitiker auf der Strasse wie der Stadtpräsident und ehemalige Präsidentschaftskandidat Rafael Trzaskowski. Auch in vielen andern Städten fanden wieder kleinere und grössere Protestaktionen statt.
Am Wochenende wurde bewusst auf Demonstrationen verzichtet. Denn an diesen Tagen fand trotz Corona-Einschränkungen die populäre Sammelaktion des WOSP statt, des „Grossen Orchesters der festtäglichen Hilfe“. Diese zivilgesellschaftliche Organisation sammelt alljährlich für medizinische Geräte für Kinder. Mit Geldsammlungen, Auktionen und Konzerten, die meist im Internet übertragen wurden, kamen so bereits über 127 Millionen Zloty (32 Millionen Franken) zusammen. WOSP unterstützte auch offen den Frauenstreik.
Wie geht es weiter?
Protestaktionen und Demonstrationen werden weitergehen. Allerdings ist die entscheidende Frage: in welchem Ausmasse und wie lange. Im Vergleich zur ersten Welle im Oktober waren die Proteste bisher schon klar geringer. Auf dem Höhepunkt waren damals allein in Warschau gegen 100’000 TeilnehmerInnen auf der Strasse. Auch die soziale Zusammensetzung ist einseitiger. Junge und sehr junge Frauen dominieren viel deutlicher als im Oktober. Allerdings ist die landesweite Verbreitung immer noch erstaunlich gross. Ins Internet wurden viele Fotos und Videos von Aktionen in Kleinstädten und sogar von kleinen Ortschaften gestellt.
Auch die inhaltliche Ausrichtung hat sich etwas verschoben.Sie zielt nun noch deutlicher auf eine Liberalisierung der Abtreibung und nicht nur auf eine Rücknahme der Verschärfung. „Moj wybor“ (meine Wahl) war einer der häufigsten Slogans auf den selbstgebastelten Plakaten. Und die radikale Opposition gegen das PiS-Regime war besonders offensichtlich. „Wypierdalac“ (verpisst euch) vermittelte eine eindeutige Botschaft.
Die Regierung wird wohl die Schraube weiter anziehen, wenn die Proteste wieder aufflammen. Bereits wurden vermehrt Bussen und Verzeigungen ausgesprochen. Bei erneuten Demonstrationen dürfte die Polizei noch entschlossener eingreifen. Und wie schon im Oktober wird sie wohl nicht zu Unrecht mit einem Einschlafen der Proteste rechnen.
Politische Auswirkungen
Die ganze Auseinandersetzung um die Abtreibungsfrage hat der PiS mehrheitlich geschadet. In den Umfragen hat sie jedenfalls seit Oktober schlechter abgeschnitten als vorher. In keiner einzigen Umfrage hätte sie im Sejm wieder eine absolute Mehrheit erreicht, über die sie seit den letzten zwei Parlamentswahlen verfügt. Vor allem bei den jungen WählerInnen hat sie deutlich verloren.
Zudem hat dem Regierungslager die Pandemiesituation zugesetzt. Die zweite Welle schlug auch in Polen zu, allerdings im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich. Die Zahlen sind mit harten Massnahmen zurückgegangen, blieben aber lange Zeit auf einem unbefriedigenden Niveau. Gestern wurden nun noch 4’700 Neuinfektionen registriert. Das Management der Krise und auch das Aufgleisen der Impfaktion wurden von Fachleuten und Medien kritisiert. Diese Woche sind einige kleinere Lockerungen in Kraft getreten, grössere wurden angekündigt.
Die Oppositionsparteien waren gegen eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze, ausser der extremen Rechten. Aber eine klare Stossrichtung fehlt weitgehend. Nur die Linke hat sich für eine Fristenlösung ausgesprochen, sie dürfte denn auch bei den jungen WählerInnen weiter zulegen. In den andern Parteien wird diese Position nur von einer Minderheit geteilt. Der Frauenstreik wird zwar unterstützt, aber nur wenige PolitikerInnen haben sich aktiv engagiert.
Soziale Konsequenzen
Obwohl Umfragen zur Abtreibungsfrage je nach Fragestellungen unterschiedliche Resultate ergaben, ist eine Tendenz klar erkennbar. Die aktuelle Verschärfung wird nur von einer kleinen Minderheit befürwortet. Entgegen der Mehrheitsmeinung werden nun fast keine legalen Abtreibungen mehr vorgenommen werden können. Deren Zahl war bisher schon gering, 2019 waren es rund 1100, die allermeisten wegen eines schwer geschädigten Fötus. Die Schätzungen der illegalen Abtreibungen schwanken hingegen enorm. Sie reichen von einigen Zehntausend bis zu weit über Hunderttausend. Die Abtreibungen werden oft im Ausland durchgeführt. Das können sich allerdings nicht alle Polinnen leisten.
So werden die sozialen Unterschiede vertieft. Weniger gebildete und arme Polinnen werden von den Verschärfungen wohl besonders betroffen. Dazu kommt, dass die traditionalistische Kirche die Anwendung von Verhütungsmitteln verbietet. Dies wird zwar Umfragen zufolge von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung nicht befolgt. Aber stramme KatholikInnen, vor allem auf dem Lande noch relativ zahlreich, setzen sich einem grösseren Schwangerschaftsrisiko aus, und eine Abtreibung kommt für sie ja sowieso nicht in Frage.
Es drängt sich eine vorläufige Bilanz auf. Die katholische Kirche und die rechtskonservativen Politiker haben ihre radikale Position gegen die Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt. Die Abtreibungsfrage wird Polen aber noch lange umtreiben. Es dürfte allerdings einen Machtwechsel brauchen, um das Problem wieder neu aufrollen zu können.