Erstmals seit 1994, als in Südafrika das weisse Apartheid-Regime zu Ende ging, könnte der African National Congress (ANC) bei den Wahlen vom 29. Mai seine Mehrheit im 400-köpfigen Parlament in Pretoria verlieren. Die Nachfolger Nelson Mandelas haben das Erbe des grossen Freiheitskämpfers weitgehend verspielt – durch Korruption und Inkompetenz.
Mehr als ein Jahrzehnt nach Nelson Mandelas Tod 2013 wird seine Hinterlassenschaft von vielen jungen Südafrikanerinnen und Südafrikanern nachhaltig hinterfragt. Die «Born Frees», d. h. die nach 1994 geborenen jüngeren Menschen des Landes, kümmert die Hinterlassenschaft des Anti-Apartheid-Helden relativ wenig. Sie lernen zwar in der Schule oder aus Erzählungen ihrer Eltern noch über ihn, aber sie erfahren ihn nicht mehr in der Realität. Und die sieht in Südafrika düster aus.
Das Wirtschaftswachstum des Landes stagniert und letztes Jahr konnte eine Rezession nur knapp vermieden werden. Offiziellen Statistiken zufolge trifft die Arbeitslosigkeit ein Drittel der Werktätigen, liegt vermutlich aber höher. Die Verbrechensrate ist erschreckend hoch, nicht nur in den Townships: Jedes Jahr werden in Südafrika 25’000 Menschen Opfer von Tötungsdelikten.
Riesige Einkommensdifferenz
In keiner anderen Nation weltweit sind die Einkommensunterschiede so gross wie in Südafrika: Mehr als die Hälfte der 62 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner, unter ihnen 81 Prozent Schwarze, leben unter der Armutsgrenze. Ausserdem sind das Gesundheitssystem und das Bildungswesen des Landes in einem denkbar schlechten Zustand.
Hatten 1995 gerade 350’00 Schwarze in Haushalten gelebt, die einkommensmässig zu den obersten 15 Prozent gehörten, waren es 2022 bereits 5,6 Millionen. Trotzdem argumentieren heute viele schwarze Südafrikanerinnen und Südafrikaner, sie hätten zwar die politische, nicht aber die wirtschaftliche Freiheit gewonnen und lebten nach wie vor in einem Zustand der Apartheit. Laut einer Umfrage vom vergangenen Jahr finden lediglich 22 Prozent der Menschen in Südafrika, die Demokratie ihres Landes funktioniere noch. 2004 waren es noch 63 Prozent gewesen.
Landbesitz in weisser Hand
Zehn Prozent der Bevölkerung halten heute 71 Prozent des nationalen Reichtums, während 60 Prozent gerade sieben Prozent besitzen. Nach wie vor besitzen Weisse am meisten Land, weil der ANC sein Vorsprechern, innert weniger Jahre 30 Prozent des Bodens in schwarze Hände zu transferieren, nicht hat halten können.
Ökonomen zufolge ist Südafrikas Wirtschaftswachstum seit 1994 zu schwach gewesen, um eine Verteilung des Reichtums in grösserem Ausmass zu erlauben. Eine Ausnahme von der Regel ist das Königreich der Bafokeng, einer Ethnie innerhalb Südafrikas. Die Royal Bafokeng Nation (RBN) hat die Einnahmen aus ihren Platin-Vorkommen weise investiert und ihrer 150’000 Seelen zählenden Bevölkerung einen Lebensstandard beschert, den andere Gruppen im Lande beneiden.
Stromausfälle und Wassermangel
Auch plagen wiederholt Stromausfälle, sogenanntes «load shedding», das Land und schaden der wirtschaftlichen Produktivität. Im März litt Johannesburg unter einer zuvor noch nie gesehenen Wasserknappheit; vor sieben Jahren hatte es Kapstadt getroffen. Dort machte seinerzeit die Rede vom «Day Zero» die Runde – von jenem Tag, an dem die Fünf-Millionen-Metropole kein Wasser mehr haben würde. Derweil ist der Klimawandel kein grosses Wahlthema, obwohl sich gerade in Kapstadt der Wassermangel aufgrund einer invasiven Baumspezies künftig noch verschärfen dürfte.
Grund für Südafrikas Alltagsmisere ist häufig der vernachlässigte Unterhalt der Infrastruktur, was etwa für viele Strassen gilt. Auch die Müllabfuhr funktioniert vielerorts nicht. Ein Taxifahrer in Kapstadt erzählt, dass er seit der Schliessung einer Bahnlinie für den Transport aus der Vorstadt ins Stadtzentrum monatlich fünfmal mehr ausgeben muss.
ANC vor Stimmenverlusten
Hat der ANC alle sechs Parlamentswahlen seit 1994 mit absoluten Mehrheiten gewonnen, so steht die Partei dieses Jahr vor grossen Herausforderungen – nicht zuletzt jener des Zanks und der Korruption in den eigenen Reihen. Angesichts der Stimmung im Land scheint es fraglich, ob der ANC unter Präsident Cyril Ramaphosa am 29. Juni erneut so erfolgreich sein wird. Falls er empfindlich Stimmen verliert, hat er noch immer die Möglichkeit, mit anderen Parteien oder mit Unabhängigen eine Koalition einzugehen und den Präsidenten zu stellen.
Einige Umfragen sagen dem in der älteren Generation Südafrikas populären ANC einen Wähleranteil von bestenfalls noch 40 Prozent voraus. Dagegen dürften ihre Unterstützung für die palästinensische Bevölkerung in Gaza und die Vorstösse beim Internationalen Gerichtshof (IGH) der Traditionspartei wieder einen Popularitätszuwachs bescheren und die lästigen Korruptionsvorwürfe vergessen lassen. Bei den letzten Wahlen 2019 hatte der ANC einen Wähleranteil von 57,5 Prozent.
52 Parteien zur Wahl
Zur nationalen Wahl treten in Südafrika dieses Jahr 52 Parteien an, unter ihnen eine neue Gruppierung unter Ex-Präsident Jacob Zuma namens «uMkhonto we Sizwe» (M. K.), die laut Umfragen gut unterwegs ist und in einigen Lokalwahlen Erfolge erzielt hat. Allerdings hat Südafrikas Oberstes Gericht entschieden, der 82-jährige Zuma dürfe aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung nicht zur Wahl antreten.
Doch sein Gesicht ziert die Wahlzettel der Partei, und der Ex-Präsident ist im Lande vor allem in seiner Heimatprovinz KwaZulu-Natal noch immer sehr beliebt. Sollte M. K. an der Urne schlecht abschneiden, sind unter Umständen Unruhen ihrer Anhänger zu befürchten, wie sie vor drei Jahren nach Zumas Verhaftung ausbrachen.
Eine Koalition ohne ANC?
Die Democratic Alliance (DA), Südafrikas Oppositionspartei, dürfte nach dem ANC am zweitmeisten Stimmen gewinnen. Mit Sitz in Kapstadt regiert die DA die Provinz Western Cape, die gemäss Umfragen die am besten regierte Provinz des Landes ist. Doch der wirtschaftsfreundlichen Partei haftet der Makel an, jene Gruppierung zu sein, die Südafrikas weisse Minderheit bevorzugt.
Die DA wäre jedenfalls willens, mit zehn weiteren Parteien eine Regierung zu bilden, sollte eine solche Koalition am 29. Mai mehr als 50 Prozent der Stimmen gewinnen. Was aber eher unwahrscheinlich scheint, hatten diese Parteien doch 2019 lediglich einen Wähleranteil von zusammen 27 Prozent.
Feuriger Mandela-Kritiker
Ein dritter Player, dem in Südafrika an der Urne gute Chance eingeräumt werden, sind die Economic Freedom Fighters (EFF), die für eine Mischung aus marxistischer Wirtschaftspolitik und Landenteignungen stehen. Ihr Führer ist der charismatische Politiker Julias Malema, bekannt für seine rote Baskenmütze und seine feurige Rhetorik. Sollte der ANC mit den EFF koalieren, könnte es bedeuten, dass Südafrikas Politik wohl extrem links, sozialistisch und anti-westlich würde.
Der 43-jährige Malema, einst Mitglied des ANC, steht Nelson Mandelas Erbe seit längerem kritisch gegenüber. Er beschuldigt den Freiheitskämpfer, seinerzeit zu viele Zugeständnisse gemacht und sich jenen weissen Männern angedient zu haben, die Südafrikas Wirtschaft beherrschten: «Ich gehöre keiner Religion namens Mandela an.»
Währenddessen sind sich in Südafrika Beteiligte jeglicher Couleur einig, dass, wenn es etwas gibt, was sie alle im Lande eint, es die absolute Freiheit ist, öffentlich seine Meinung zu äussern, ohne Repressalien befürchten zu müssen. Jeder oder jede kann sagen, was er oder sie will, wie laut, nonkonform oder spontan auch immer. Auf dem World Press Freedom Index der Reporter ohne Grenzen (RSF) rangiert Südafrika auf Platz 38, vor Ländern wie Australien (39.), Italien (46.) oder den USA (55.), was laut RSF «zufriedenstellend» ist.