Die ungarische Regierung hat zum 60. Jahrestag der ungarischen Revolution vom Oktober 1956 ein Erinnerungsjahr ausgerufen. Es besteht aus einer Serie von Ausstellungen, Theatervorführungen, PR- und Werbekampagnen sowie wissenschaftlichen und öffentlichen Veranstaltungsreihen. Im Rahmen des Gedenkjahres werden zahlreiche Programme weltweit – auch in der Schweiz – organisiert oder unterstützt. Das Ganze ist mit einem Budget von rund 48 Millionen Schweizer Franken ausgestattet.
Falsche Freiheitskämpfer
Eine Plakatkampagne wirbt mit Portraits von Freiheitskämpfern, die sich gegen die Rote Armee stellten. Sie schauen einen von gewaltigen Plakatwänden, kleinformatigen ÖV-Werbungen, sogar von Brandschutzmauern an. Allerdings ist eines der Sujets in den letzten Monaten zu einem gewaltigen Skandal geworden. Das Poster zeigt einen Jungen, der angeblich László Dózsa heisst – ein Schauspieler, der vor allem für seine Selbstinszenierung als Freiheitskämpfer bekannt ist.
Das berühmte Originalfoto ist 1956 im „Life“-Magazin mit einer anderen Namensbezeichnung, nämlich Pál Pruck, publiziert worden. Der im Jahr 2000 verstorbene Pruck hat zudem das Foto in der Presse und sogar in einer Fernsehreportage von 1986 erwähnt. Auch Prucks Familie hat gegen die Aneignung und Verfälschung des Fotos protestiert. Die ungarische Presse, einschliesslich das führende Fernsehnetzwerk RTL Klub, hat darüber ausführlich berichtet und Fotos des jungen Pruck gezeigt. Es besteht kein Zweifel, dass Pruck und nicht Dózsa auf dem Plakat abgebildet ist.
Mária Schmidt, Historikerin und Vorsitzende des Organisationskomitees des Erinnerungsjahres, ist eine Schlüsselfigur der Erinnerungspolitik der regierenden Fidesz-Partei sowie enge Verbündete und ehemalige Beraterin von Ministerpräsident Viktor Orbán. Sie hat sich nicht für den Fehler entschuldigt oder um eine Richtigstellung bemüht. Stattdessen hat sie erst weiter behauptet, auf dem Foto sei Dózsa abgebildet. Pruck hat sie als einen Kleinkriminellen hingestellt. Zwei Wochen danach hat sie dann zugegeben, es hätte vielleicht einen Fehler gegeben, aber die Schuld dafür habe bei Herrn Dózsa gelegen.
Dies war nicht der einzige problematische Aspekt der Plakatkampagne. Weitere Bilder haben sich als verfälscht erwiesen. Einige Personen sind von den Fotos gelöscht worden, andere wurden vor einem neuen Hintergrund gezeigt. In noch weiteren Fällen sind Ausweisfotos an fremden Körpern mit Gewehren montiert worden, die laut Experten diese Waffen nie hätten halten oder sich die Kleider nie hätten leisten können.
Mythisches Narrativ
Diese Einstellung gegenüber historischen Dokumenten ist für das ganze Erinnerungsjahr typisch. Das kann nicht nur auf Dilettantismus zurückgeführt werden, obwohl dieser auch eine Rolle spielt; das Organisationskomitee besteht statt aus wissenschaftlichen Experten der Revolution von 1956 aus politisch Beauftragten. Entscheidend für diese Fehler oder gar Fälschungen und für die fehlende Bereitschaft zur Richtigstellung ist die totale Politisierung des Programms. Wie János M. Rainer, der leitende Experte in der Erforschung der Revolution von 1956, in einem Artikel feststellte, hat die Regierung dieses komplexe historische Ereignis unter ein einheitliches Narrativ gestellt und versucht, dieses als exklusiv festzulegen.
Dieses offizielle Verständnis des Ungarnaufstands von 1956 konzentriert sich auf die Freiheitskämpfer. Laut Frau Schmidt seien die eigentlichen Helden der Revolution die einfachen Menschen. Es gehe in dem Freiheitskampf um eine antikommunistische Revolution. Mittels dieses Rahmens wird geschickt der Bezug zu einer Gegenwart hergestellt, in der die Ungarn angeblich nach wie vor ihre nationale Souveränität, ihr Überleben als Nation verteidigen müssen. Statt Moskau und der Kommunismus sind der Multikulturalismus und der Liberalismus aus Brüssel die aktuellen Gegner – wie es Viktor Orbán in seiner am 60. Jahrestag der Revolution gehaltenen Rede beteuerte.
Allgemein gesprochen, widerspiegelt dieses Narrativ über die Revolution den gegenwärtigen Populismus, der dem Volkswillen eine geradezu mythische Rolle verleiht. Auf ihn beruft sich das System der Nationalen Zusammenarbeit – so bezeichnet die Orbán-Regierung ihr Regime. Bewaffnete Konflikte und Strassenkämpfer spielen in dieser Interpretation von 1956 eine zentrale Rolle, aber sie sind ihrem persönlichen und historischen Kontext entzogen. Wie der Umgang mit den Fotos von Freiheitskämpfern bezeugt, sind diese als reale Personen völlig irrelevant. Vielmehr werden sie als Exponenten der „Nationalen Einheit“ vereinnahmt.
Ausgegrenzt und vergessen
So ist es nachvollziehbar, dass jeder und alles, was dieser Rhetorik nicht entspricht, vernachlässigt, ausgegrenzt oder kleingeredet werden muss. Demnach werden die Universitätsstudenten, deren Solidarität mit den polnischen Reformern die ganze Revolution in Ungarn ausgelöst hat – sie formulierten ein 14-Punkte-Manifest von politischen und sozialen Forderungen –, aus den Gedenkanlässen eliminiert. Die jungen Intellektuellen der Petőfi-Zirkel sind auch vergessen worden, obwohl ohne die bereits 1955 von ihnen initiierten offenen und kritischen Debatten die Revolution von 1956 vielleicht nie stattgefunden hätte und viele von ihnen zentrale Figuren der Revolution geworden waren.
Das offizielle Narrativ verschweigt ausserdem die Rolle der Arbeiterversammlungen, die die Fabriken übernahmen und der Revolution Rückhalt gaben. Die Flüchtlingswelle vom November und Dezember 1956 – die grösste in Europa zwischen dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem jugoslawischen Krieg – wird ausgelassen, als ob sie nie stattgefunden hätte. Angesichts der Position und der Politik der Regierung gegenüber der Flüchtlingsfrage ist dies nicht allzu überraschend.
Ebenfalls vollständig ausgeblendet sind die Führungskräfte des Landes während der Revolution, und zwar Imre Nagy, der Ministerpräsident, und die Mitglieder seiner Kabinette, welche zu Märtyrern der Revolution geworden waren. Offensichtlich waren die meisten – wenn auch nicht alle – dieser Persönlichkeiten Kommunisten, die während der Diktatur promintente Positionen innehatten. So Imre Nagy selbst, der bereits 1953 Ministerpräsident war. Sie haben sich nach und nach gegen die totalitäre Diktatur gewandt. Nagy hat jedoch seine kommunistischen Überzeugungen nie aufgegeben. Er und seine Regierung sind aus dem Erinnerungsjahr ausgegrenzt, obwohl sie nicht nur die Forderungen der Revolution angenommen und vertreten, sondern diese auch mit dem Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt unterstrichen hatten.
In einem Interview gab Frau Schmidt zu, dass Imre Nagy einen „schönen Tod“ hatte – das heisst, dass er aufgehängt und in einem nicht gekennzeichneten Grab begraben wurde. Aber die tatsächlichen Helden seien die Freiheitskämpfer, nicht er, meint Schmidt. Sie hat auch über den Petőfi-Zirkel als einen obskuren marxistischen Debattierklub gespottet, der keinen Bezug zu den einfachen Leuten hatte, und „nur diejenigen können die Rolle der Reform-Intellektuellen vergrössern, die ihr eigenes Schicksal in der ‚mea culpa’ der ehemaligen stalinistischen Elite wiedererkennen“.
„Haus des Terrors“ übt Geschichtsklitterung
Frau Schmidt hat eine Vorgeschichte in der Verleumdung von Imre Nagy. Historiker haben 23 Ungenauigkeiten und völlige Unwahrheiten im Lebenslauf von Imre Nagy gefunden, der auf der Webseite des „Haus des Terrors“ publiziert wurde. Dieses Museum ist die wichtigste Institution der rechten Erinnerungspolitik, seit seiner Eröffnung im Jahr 2002 geleitet von Frau Schmidt. Obwohl man Frau Schmidt auf diese Fehler aufmerksam gemacht hatte, hat sie nie eine Richtigstellung veranlasst.
Die Ausstellung im Haus des Terrors über die Revolution von 1956 bietet vielleicht die beste Synthese der Erinnerungspolitik der derzeitigen Regierung. Die ganze Wechselausstellung belegt einen einzigen Raum. In diesem Raum steht ein Fernseher, der Interviews mit ehemaligen Freiheitskämpfern wiederholt. Weiter gibt es sechs kleine Nebenräume, wo man jeweils einen 3D-Kurzfilm anschauen kann. Diese Filme sind nicht Dokumentationen, sondern Dramatisierungen bestimmter Themen (Verhöre nach der Revolution, die Euphorie über die Entfernung eines roten Sterns von einem öffentlichen Gebäude usw.). Alle sind sehr emotional, manipulativ und verwenden das zentrale Narrativ, wonach die Revolution von 1956 eine nationalistische und antikommunistische Revolution war. Die Kämpfer werden als zutiefst religiös dargestellt. Die Filme heben zudem das Heldentum der einfachen Freiheitskämpfer und die Rücksichtslosigkeit sowie moralische Korruptheit der Gegner hervor – seien sie sowjetische oder ungarische Kommunisten.
Eine Poster-Installation, die sich der Geschichte und den Gesichtern und Namen der Helden der Revolution widmet, steht vor dem Museumsgebäude auf der Andrássy Strasse, einem der elegantesten historischen Boulevards der Stadt. Alle historischen Figuren, die dem offiziellen Narrativ nicht entsprechen würden, fehlen – einschliesslich die Mitglieder der Imre-Nagy-Regierung, die nach der Revolution hingerichtet oder inhaftiert wurden. Diejenigen, deren Leben geschont wurde, haben Behörden und Geheimpolizei bis 1989 verfolgt. Sie waren es, die an erster Stelle die Erinnerung an die Revolution jahrzehntelang aufrechterhalten haben.
Die Gruppe „Lebendiges Denkmal“, eine Gruppe von Zivilisten, die seit Jahren Protestaktionen gegen die Erinnerungspolitik des Orbán-Regimes organisiert, hat die Versäumnisse korrigiert und die Installation mit Portraits jener historischen Persönlichkeiten ergänzt, ohne die die Geschichte der Revolution nicht interpretiert werden kann, einschliesslich Imre Nagy und die Mitglieder seines Kabinetts. Das Haus des Terrors hat im Gegenzug ungarisch- und englischsprachige Warnschilder zwischen den offiziellen und inoffiziellen Postern aufgehängt, die beteuern, dass das Museum nichts mit den neuen Postern zu tun hat, und die ganze Aktion als eine „politische Provokation“ bezeichnen.
Verdrängung von „1956“ unter Kádár
Die Revolution von 1956 wurde in Ungarn in der Kádár-Ära bis 1989 als eine faschistische Konterrevolution deklariert. Die Vergeltungsmassnahmen waren äusserst scharf und weitreichend: 367 Menschen wurden zum Tod verurteilt (und circa 280 Menschen wurden hingerichtet). Bis 1963 wurden 26’621 Personen zu einer Haftstrafe verurteilt (93 Prozent mussten bis zu fünf Jahre ins Gefängnis gehen), 13’000 wurden in neue Internierungslager gesteckt. Die letzten Hinrichtungen fanden 1961 statt, zwei Jahre nach der ersten teilweisen Amnestie von 1959 und zwei Jahre vor der völligen Amnestie von 1963.
Die Mehrheit der Bevölkerung hat schnell ihre Kompromisse mit dem Kádár-Regime gemacht. János Kádár und sein „Gulaschkommunismus“ genossen grosse Popularität. Ironischerweise kann sogar dieser Gulaschkommunismus – die „Sozialen und Wirtschaftlichen Reformen“ der Kádár-Ära – im Kontext der Forderungen der Revolution verstanden werden. In einer repräsentativen Medienumfrage im Dezember 1999 erreichte Kádár den dritten Platz der „bedeutendsten Persönlichkeit der tausendjährigen ungarischen Geschichte“.
Drei Jahrzehnte lang gedachten jeweils am 23. Oktober nur einige wenige Dissidenten – überwacht von zahlreichen Agenten – alljährlich der Märtyrer. Im Neuen Allgemeinen Friedhof in Budapest lagen bei der 301. Parzelle die namenlosen Gräber vieler hingerichteter Revolutionäre, unter anderem auch jenes von Imre Nagy. Nagy und andere Märtyrer wurden am 16. Juni 1989 unter den Augen Hunderttausender von Teilnehmern wiederbestattet. Im Jahr 2016 – 27 Jahre nach der Wiederbestattung, einem der wichtigsten Momente des Sturzes der kommunistischen Diktatur – werden Imre Nagy, seine Regierung und weitere politische und intellektuelle Leitfiguren der Revolution von 1956 von der regierenden Macht einmal mehr als politische Provokation wahrgenommen.
Rafael Labanino ist ungarischer Politologe und Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.