Jahrzehntelang ist der israelisch-palästinensische Konflikt als Zentrum allen Unfriedens im Nahen Osten bezeichnet worden, bevor er in den vergangenen zwei Jahren von der internationalen Diplomatie in die zweite oder gar dritte Reihe gerückt wurde. Zu Recht binden das iranische Nuklearprogramm, der verheerende Bürgerkrieg in Syrien samt seinen gefährlichen Metastasen in den Libanon, nach Jordanien und in die Türkei hinein sowie das blutige politische und ideologische Drama in Ägypten einen gewichtigen Teil des auswärtigen Krisenmanagements.
Idee der Zwei-Staaten-Lösung in Israel obsolet
In ihrem Windschatten macht die israelische Regierung das vage Bekenntnis zu einer Zwei-Staaten-Regelung zunichte. Als mich in diesem Frühsommer zwei israelische Diplomaten danach fragten, ob von Seiten Berlins ein erhöhter Druck auf Benjamin Netanjahu zu erwarten sei, habe ich geantwortet, dass der friedenspolitische Schlüssel vornehmlich in Israel selbst liege: Wo macht sich denn die Koordination und die Zusammenarbeit der Friedensszene über Demonstrationen und Proteste hinaus bemerkbar?
Dass die Siedler-«Frauen in Grün» jüngst mit einem umfangreichen Katalog aufwarteten und darin als ersten Schritt die Ausdehnung der Souveränität auf 60 Prozent der Westbank verlangten, passt in das Gefüge der vorherrschenden Einmütigkeit. Die in Jerusalem lehrende Soziologin Eva Illouz hat in «Haaretz» (23.11.2013) darauf aufmerksam gemacht, dass die rassistischen Ausfälle des früheren Oberrabbiners Ovadia Josef, den im Oktober 800’000 Trauernde und Repräsentanten des öffentlichen Lebens zu Grabe trugen, mit stillschweigender Zustimmung oder mit Indifferenz quittiert wurden.
Im Ausland wird übersehen, dass Benjamin Netanjahu in seinem Kabinett mit Avigdor Lieberman (Auswärtiges), Moshe Yaalon (Verteidigung), Naftali Bennett (Wirtschaft), Yuval Steinitz (Strategie), Uzi Landau (Tourismus) und Israel Katz (Verkehr) sowie ihren Stellvertretern Zeev Elkin und Danny Danon keineswegs der Getriebene ist, sondern selbst im Zentrum der Konfrontationsachse steht.
Iranische Drohung verdrängt palästinensische Frage
Das von Illouz ausbuchstabierte «Kulturschema» greift auf den metaphysischen Glauben an die von Gott zugesagte Ewigkeit des jüdischen Volkes zurück, so dass Netanjahu mühelos die heimische Aufmerksamkeit die nahe «palästinensische Frage» durch das ferne iranische Nuklearprogramm ersetzen kann, obwohl zuletzt Shimon Peres – so nahe liegen Ohnmachtsgefühle und Allmachtspotentiale beieinander – keinen Zweifel an der Überlegenheit der militärischen Abschreckungskapazitäten gelassen hat.
Der Erfolg dieser propagandistischen Handwerkskunst weist namhafte Stimmen aus Theologie und Wissenschaft in der eigenen Gesellschaft als gefährliche Irrläufer ab und überfordert die internationale Politik. Dass der israelische Premier den Palästinenserpräsidenten Machmud Abbas mit der Aufforderung in die Knesset eingeladen hat, dort die Anerkennung Israels als jüdischen Staat zu proklamieren, ist die lokale Kehrseite seiner auswärtigen Strategien.
Wozu noch Palästina?
Derweil taumelt die palästinensische Autonomiebehörde von einer Krise in die nächste. Die Einigung zwischen «Fatah» und «Hamas» ist weniger denn je in Sicht und beschädigt international die Legitimität eines palästinensischen Staates. Saeb Erakat, dem als Chefdiplomaten in arabischen Medien der Ruf zugemessen worden ist, er sei «der grösste Unterhändler», dem niemand in Ramallah und in Israel das Wasser reichen könne, hat zum wiederholten Male seinen Rücktritt erklärt, ohne ihn zu vollziehen. Würde die Autonomiebehörde aus den Verhandlungen aussteigen, käme dies den israelischen Ambitionen auf «Judäa und Samaria» zupass.
Was die eigene Glaubwürdigkeit angeht, hätte sich die Rhetorik von der Zwei-Staaten-Lösung erledigt, wonach die milliardenschweren Hilfen dann zur Disposition stünden. Der aufgeblähte öffentliche Dienst mit – wie es zuletzt hiess – 160’000 Angestellten stünde vor dem Aus.
Mehr denn je rächt es sich für die Palästinenser, dass König Hussein Ende Juli 1988 die Westbank freigab, womit jene 5’600 Quadratkilometer zu einem souveränitätsfreien Territorium wurden, weil der PLO die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt fehlte. Auf diesen Argumentationsstrang wird von israelischen Juristen grösster Wert gelegt.
Warten auf die Staatengemeinschaft?
Während Lieberman mit der Suche nach neuen Bündnispartnern droht, um die Abhängigkeit von den USA auszutarieren, hat Washington zur Begleitung der israelisch-palästinensischen Gespräche sein Team mit Martin Indyk an der Spitze um David Makovsky vom konservativen «Institute for Near East Policy» erweitert, obwohl ihm derselbe Ruf des politischen Hinhaltens vorauseilt wie dem einstigen Chefberater mehrerer Präsidenten, Dennis Ross. Spätestens Ende 2014 wird der Kampf um das Weisse Haus beginnen, der im Zeichen vermehrter neo-isolationistischer Strömungen stehen dürfte.
Die Erläuterungen zur Direktive der Europäischen Kommission vom Juli 2013 lassen auf sich warten, obwohl sie am 1. Januar 2014 in Kraft treten sollen. Gemäss diesen Brüsseler «Guidelines» sollen EU-Einrichtungen an israelische Unternehmungen keine Finanzierungen und Kredite sowie Stipendien und Preise mehr vergeben dürfen, wenn sie auch in der Westbank, in Ost-Jerusalem und auf den Golanhöhen agieren. Die Übertragung der EU-Direktive ins nationale Recht der 28 Mitgliedstaaten ist ungeklärt. Dort fallen die alles entscheidenden Würfel.
Europäische Nahostpolitik ohne klare Konturen
Dass François Hollande in Ramallah und auch vor der Knesset harte Töne zur Siedlungspolitik anschlug, diente vornehmlich der Revision seines schwer angeschlagenen Renommees in der Innenpolitik. Bemerkenswert hingegen war seine Geste, die Führung der liberalen jüdischen Organisation «JCall», die von ihm mehr diplomatische Dynamik verlangt, auf Reisen mitzunehmen. Vor kurzem ist zwischen London und Ramallah ein «strategischer Dialog» vereinbart worden. Alle zwei Jahre finden deutsch-palästinensische Konsultationen auf Regierungsebene statt, zuletzt Anfang Dezember 2012. Ob aus den drei genannten Vorgängen nennenswerte politische Impulse hervorgehen, ist eher ungewiss.
Wer auch immer in Berlin ins Auswärtige Amt am Werderschen Markt einzieht, wird zwar auf nahosterfahrene Diplomaten sowie fachkundige Botschafter und Repräsentanten in Tel Aviv und Ramallah treffen, doch käme es einem Wunder gleich, wenn der Nachfolger oder die Nachfolgerin Guido Westerwelles den auch öffentlich vermerkten Bedeutungsverlust gegenüber dem Bundeskanzleramt wettmachen könnte. Bislang laufen die Fäden bei Angela Merkel zusammen. Höchst wünschenswert wäre bereits die Akkreditierung der Leiterin der Palästinensischen Mission, Khoulud Daibes, beim Bundespräsidenten, mithin die endgültige Aufwertung zur Botschaft.
Solange die Opposition im Bundestag als dezimierte und strategisch-operative Minderheit um zentrale Rechte im Plenum und in den Ausschüssen kämpfen muss, dürfte sie für Ausflüge in den Nahen Osten insgesamt kaum Zeit und Kraft finden. Jenseits der Durchsetzung eines Stopps von Rüstungslieferungen, der auch Israel als grossen Waffenexporteur nach Deutschland in den Blick nimmt, müssten zumindest die Grossen und Kleinen Anfragen systematisch nachgearbeitet und die Bereitschaft zur politischen Verantwortung klargestellt werden.
Verhärtungen international in Kauf genommen
Bis dahin läuft die übliche Devise «auf Sicht zu fahren» darauf hinaus, die Besatzung hier und die politische Unebenbürtigkeit dort so lange zu verlängern, bis sich die Verhärtungen endgültig diplomatischen Korrekturen entzogen haben.
Alle Beobachter sind sich darin einig, dass dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern im Gegensatz zu den Erdbeben in der arabischen Nachbarschaft die Regelungsfähigkeit innewohnt. Die spannende Frage lautet: Hat sich für die Aussenämter die Zwei-Staaten-Rhetorik erledigt, weil die Zerrüttungen in der arabischen Nachbarschaft die Schaffung eines Staates Palästina ad absurdum führen?