Dennoch wurde Anna und ihren Musikern Georg und Manuel ein Empfang zuteil, wie ihn nur die Stadt Basel kennt und normalerweise einem siegreichen FC Basel oder einem siegreichen Roger Federer ausrichtet. Anna stand zwar nicht auf dem Balkon des Rathauses, aber es gab immerhin einen Blumenstrauss vom Stadtpräsidenten. Und auch der Sonntagsblick spendete Trost, als er Anna versicherte, für «uns» sei sie noch immer die Nr. 1. Lob gab es am Sonntag auch von Altmeister Peter Reber in einer Sendung von «glanz&gloria» am nationalen Fernsehen.
Der Sängerwettstreit vereinte anscheinend 125 Millionen Menschen vor dem TV. Im Internet wurden viele Live-Ticker angeboten, aber The Real Thing ist doch etwas ganz anderes, nicht wahr? Es soll Leute geben, die sich jedes Jahr in Abendkleidung, die nicht aus Pyjamas besteht, vor dem Flachbildschirm versammeln und total vergessen, ihren Prosecco zu schlürfen, wenn sich eine neue Zampanò-Truppe zum Abstrampeln anschickt. Also her mit den Gläsern und den Wasabi-Peanuts. Es ist Eurovision Song Contest (ESC), was früher mal Grand Prix Eurovision de la Chanson hiess. Der Name ist weiter keine grosse Überraschung für Sendungs-Abstinente, die sich erst dieses Jahr wieder aufs Sofa setzten, um die Blüte des europäischen Pop zu begutachten. Englisch ist auch musikalisch gesehen längst die Lingua franca Europas.
In der Esprit-Arena zu Düsseldorf standen diesmal die Sängerknaben und –mädchen aus 25 Ländern im Final, aber hier interessierte natürlich nur Anna. Anna sang mit schöner Soul-Stimme «Na na na na na» (gezählte fünfmal in diesem Refrain, der von der Halle mitgesungen wird). Ihr eigentlicher Text heisst «In Love for a While» oder so ähnlich, aber das ist nicht weiter wichtig oder erinnerlich, denn von Love sangen die meisten anderen eben auch. Der Hype um Annas Kleid war gut gemacht, aber der gedeckt rote, damenhafte Pailletten-Dress bot wohltuende Abwechslung zu den anderen Sängerinnen, obwohl er ihr zu weit war. Will man Blick Online vom Montag glauben, hat die ohnehin schon zierliche Strassensängerin in Düsseldorf drei Kilo verloren. Und den Sieg, notabene, was schwerer wiegt.
Sagen die ausgewählten Lieder und Acts etwas aus über die Mentalität der Länder, die sie ausgewählt und ins Rennen geschickt haben? Nur wenige schafften es nämlich ohne nationalen Wettbewerb in den Final, zum Beispiel die Vorjahressiegerin Lena, die von Stefan Raabs Gnaden auf der Direttissima nach Düsseldorf gelangte und zeigte, dass sie viel dünner geworden ist, was zu ihrer Stimme passt (sie erreichte Platz 10). Fazit: Kaum Rückschlüsse auf nationale Kulturen, dafür sind sich die Darbietungen zu ähnlich, mit Unterschieden höchstens in der Ausstattung, aufgepeppt durch eine egalitär-phänomenale Bild- und Lichtregie made in Düsseldorf. Die ungarische Sängerin beispielsweise hüllte sich in ein Überbleibsel der Osterdekoration, und der freundliche Sänger-Opa aus Bosnien-Herzegowina gab zu, dass sein schlappes kariertes Jackett schon 15 Jahre alt sei.
Warum in aller Welt begann die ARD ihre Übertragung bereits um 20.15 Uhr? Einspielungen und das Pfannenkuchengesicht von Stefan Raab wären verzichtbar gewesen. Auf SF 2 läuft derweil ein gecoverter Tribut an Abba, und der stimmt echt wehmütig. «Waterloo», Sieger im Wettbewerb 1974, das war doch noch was. SF 1 zeigt gleichzeitig die klassische Schnyder-Verfilmung von Gotthelfs «Geld und Geist». Dieser Titel passt nicht schlecht zum Geschehen in Düsseldorf. Die Estländer wählten denn auch als ihre Deutschland-Promo die Frankfurter Börse, weil ihr unauffälliges Lied «Rockefeller Street»hiess, was unweigerlich die Sehnsucht nach Esther und Abi Ofarims unglecih besserem «Cinderella Rockefeller» weckte.
SF 1 stieg erst um 21 Uhr ein, was dem Sofa-Publikum die ersten Darbietungen ersparte, aber es bleibt unerfindlich, weshalb ein Kolumnist des «Tages-Anzeigers» ultimativ dazu aufgerufen hatte, lieber Peter Urban auf ARD zuzuhören als Sven Epiney auf SF 1. Epiney machte seine Sache nämlich hervorragend, manchmal übersprudelte zwar sein Informationsvorsprung, aber er war ein kluger, witziger und wo nötig auch emphatischer Begleiter. Er kombinierte häufig sogar richtig zum voraus, welches Land welchem anderen die meisten Punkte geben werde. Er stand Urban in nichts nach, aber der gewann dann allerdings die Schweizer Herzen, als er die schlechte Platzierung der Schweiz bedauerte.
Amüsant die schrillen irischen Zappel-Zwillinge Jedward, denen ihr Mami wohl zu selten die vom Kinderarzt verschriebene Dosis Ritalin verabreicht hatte. Die pinselhaarigen Comidfigürchen sahen aus, als kämen sie direkt aus der letzten Verfilmung von «Alice im Wunderland», doch Johnny Depp war derweil nicht in Düsseldorf, sondern am Filmfestival Cannes. Und die kurzhaarige serbische Sängerin Nina im 1960er Look - ach, Sandie Shaw, Siegerin von 1967, wo sind die echten 1960er Jahre geblieben? Müssen sie wirklich nochmals aufgewärmt werden?
Eine grossartige Stimme in einem ansonst von der Schiene gerollten Act liess der griechische Sänger mit einem Namen wie Joghurt erahnen. Viel grossartiger allerdings erschallte die Stimme von Amaury Vassili, der multikulturelles Frankreich darbot: Bretone, mit einem Lied aus Korsika, wo man es möglicheweise gar nicht goutierte, für Frankreich gehalten zu werden. Er bot grosse Oper, zerzaust wie Tristan, der um Isolde trauert, aber er siegte nicht. Das wäre beinahe dem italienischen Jazzer Raphael Gualazzi gelungen, mit einem Swing-Lied, das er selber am Piano begleitete, auf Italienisch zwar, aber mit dem englischen Titel «Madness of Love». Spiegel Online hatte vorher diese Darbietung bezichtigt, kein einziges Klischee bis hin zur gestopften Trompete auszulassen. Italien, nach 14 Jahren Abwesenheit, landete, gestopfte Trompete hin oder her, beinahe im Blu Dipinto Di Blu, aber eben doch nur auf Platz 2 (erst zweimal siegte bisher die nazione della canzone).
Ermüdend lange dauert die Punkte-Vergabe, seit Europa viel mehr Nationalstaaten hat als während des Kalten Krieges. «Hallo Deutschland! Moldova calling!» Anke Engelke, kaum zu erkennen, lächelte wie eine Statue. Musste schmerzen. Sozusagen niemand nennt die Schweiz! Sie rutscht auf den letzten Platz. Na na na! Halt! Grossbritannien, Mutterland des Pop, billigt der Schweiz seine zweithöchste Zahl 10 zu. Thank you! Ob William und Kate auf ihrer Honeymoon-Insel wohl auch zugeschaut haben und eingedenk ihrer Skiferien in Klosters einverstanden sind? Zu den 19 Schweizer Punkten trug die Slowakei 4 Zähler bei. Vielleicht geschah dies als Entschuldigung dafür, dass kürzlich ein slowakischer Kannibale einen Schweizer verspeisen wollte.
Gesiegt hat Aserbaidschan. Warum eigentlich? Wenn «Running scared tonight» wirklich das beste Lied war, haben wir allen Grund to run scared. Gehört Aserbaidschan überhaupt zu Europa? Geografisch liegt es doch eher bereits in Asien? Sven Epiney wusste alles, und er scheint sich bereits auf die Sendung aus Baku im nächsten Jahr zu freuen. Gehört das Sieger-Duo Ell und Nikki wohl auch zur schiitischen Mehrheit? Dann war die 30jährige Sängerin aber ganz schön kess gekleidet. Oder der Iran hat am Kaukasus weniger klerikalen Einfluss.
Unsere Aussenministerin reist manchmal nach Aserbaidschan, auch andere Würdenträger, denn das Land gehört zur Schweizer Bretton-Woods- Stimmrechtsgruppe. Dennoch publiziert das EDA sehr verhaltene Reisehinweise. Das Land liegt in einem Erdbebengebiet (in jeder Hinsicht) mit prekärer medizinischer Versorgung und steigender Kriminalität, besonders gegen Ausländer. Vor «Massenansammlungen jeder Art» wird gewarnt. Aber was ist ein ESC denn anderes? Die Fussball-Ausscheidungen fanden bisher jedenfalls aus Sicherheitsgründen stets in der Türkei statt. Auch für einen möglichen – noch nicht bestätigten – ESC in Baku gibt es bereits jetzt ein schlechtes Omen für die Schweiz, sollte sie denn überhaupt erneut im Final landen: Aserbaidschan gewann 1998 in der WM-Qualifikation 1:0 gegen die Schweiz.