Unlängst hat meine Frau aus dem Tram den «Blick am Abend» nach Hause gebracht. Auf der ersten Seite war da als Aufmacher zu lesen: «Ych bi immer no Single. Warum de David Degen au 10 Jahr spöter nanig die richtig gfunde hät.» Im Innenteil dann eine Erklärung für diese befremdlichen Zeilen: Der gratis «Blick am Abend» produziert an jedem Jahrestag seiner Gründung eine Ausgabe, deren Texte durchgehend in Schweizer Dialekt geschrieben sind. Jeder Journalist schreibe so, «wie im oder ihre de Schnabel gwachse isch», verkündet der stellvertretende Chefredaktor.
Mühsam lesbare Heimattümelei
Dieser Redaktor räumt in seiner Erklärung ein: «Hüt bruched Sie echli länger Ziit zum läse als susch» – eben, weil in dieser Nummer alles in Dialektsprache verfasst sei. Und das ist, wie jeder merkt, der diese Blick-Texte lesen will, eine ziemlich mühsame Angelegenheit. Warum die Blattmacher auf die gloriose Idee verfallen sind, am Geburtstag ihres Gratisprodukts die ganze Nummer in Mundart zu schreiben und zu drucken, wird im Editorial nicht erklärt.
Es darf aber mit gutem Grund vermutet werden: Man will sich damit beim Publikum anbiedern. Heimatnähe und demonstrativ betonte Verbundenheit mit der regionalen Sprachnische kommt gut an, werden die «Blick-am-Abend»-Leute kalkulieren. Denn auch sie müssen, wie fast alle Macher von Print-Medien versuchen, sich dem Schrumpfen ihrer Postille entgegenzustemmen.
Schriftliche Nachrichten in den vielseitigen helvetischen Mundarten sind zwar populär als Liebesbotschaften in Briefform oder auf SMS- und WhatsApp-Kanälen, angefangen bei Teenagern bis hinauf in höhere Semester. Doch dabei geht es ja in der Regel nicht um komplexe Sachverhalte, die womöglich einer längeren und sachlichen Erläuterung bedürfen. Es geht um die Bekundung von Nähe und Intimität. Da versteht man sich spontan auch ohne feste orthographische und grammatikalische Regeln, die im Mundartbereich nicht existent sind.
Literarische Mundart-Nischen
Beim Zeitungs- oder Bücherlesen sind wir als helvetische Normalbürger weitaus besser bedient, wenn wir die Berichte über das aktuelle Geschehen in Berlin oder Washington oder den Inhalt des «Grünen Heinrich» in der eingeschliffenen und standardisierten deutschen Schriftsprache lesen können, anstatt in einer punkto Schriftbild wenig vertrauten, orthographisch chaotisch daherkommenden Mundart.
Natürlich gibt es auch in diesem anspruchsvolleren Bereich erfolgreiche Ausnahmen wie etwa bestimmte Werke von Pedro Lenz («De Goalie bin ig»), Arno Camenisch, der Dialekt und Hochsprache poetisch mischt, oder manche zu Klassikern gewordene Liedertexte von Mani Matter. Aber das sind letztlich Nischenprodukte – ähnlich wie die Spoken-Word-Bewegung eine kreative, schillernde Facette im literarischen Kosmos des deutschen Sprachraums.
Duale Sprachwirklichkeit als Reichtum
Die duale Sprachwirklichkeit in der alemannischen Schweiz – Dialekt im mündlichen Austausch, Hochdeutsch im schriftlichen Bereich – ist im Grunde ein kostbarer kultureller Reichtum. Der Gebrauch der Mundart vertieft einerseits unsere regionale Identität. Gleichzeitig verbindet uns die vom ersten Schuljahr an eingeübte Nutzung der Hochsprache mit einem in jeder Hinsicht sehr viel ausgedehnteren Kulturraum. Hätten C. F. Meyer oder Max Frisch ihre Werke im Dialekt geschrieben, so wären «Jürg Jenatsch» und «Stiller» ausserhalb der engen helvetischen Sprachgrenze kaum je wahrgenommen worden.
Die Macher des «Blick am Abend» haben zwar kaum Ambitionen, ausserhalb der Schweiz gelesen zu werden. Aber der heimattümelnde Versuch, mit einer mühsam lesbaren Mundart-Nummer beim einheimischen Pendler-Publikum zu punkten, wird dem Gratisblatt bestimmt keine höhere Beliebtheit einbringen.