Die Gewaltenteilung im Staat – Legislative, Exekutive, Judikative – gehört zu den grossen Errungenschaften der Aufklärung. Verstösse gegen sie werden meist der Politik angelastet. Aber Achtung: Auch die Justiz hat mitunter Appetit auf Macht.
1748 wurde Montesquieus «De l’esprit des lois», einer der grundlegenden Texte der Aufklärung, anonym veröffentlicht. Erscheinungsort war die unabhängige Stadtrepublik Genf. Im Herrschaftsgebiet der französischen Krone hätte das Buch wegen der Zensur keinesfalls erscheinen können. Die römische Kirche setzte es auf den Index der verbotenen Bücher. Was war so gefährlich an dieser Abhandlung?
Montesquieu ging es darum, die Ausübung von Macht im Staat zu begrenzen. Er schreibt: «Eine Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu neigt, sie zu missbrauchen. Deshalb ist es nötig, dass die Macht der Macht Grenzen setzt. Es gibt in jedem Staat dreierlei Vollmacht: die gesetzgebende Gewalt, die vollziehende und die richterliche. Es gibt keine Freiheit, wenn diese nicht voneinander getrennt sind.» Das war ein Fanal gegen das Machtmonopol der absoluten Monarchie – und Letztere war denn auch entsprechend alarmiert.
Das anti-absolutistische Prinzip der Gewaltenteilung hat Montesquieu in «De l’esprit des lois» begründet und in konsistenter Form ausformuliert. Es ist zu einem der Pfeiler modernen Staatsdenkens geworden und wird mit guten Gründen immer dann beschworen, wenn Politikerinnen oder Politiker in ihrem Machtgebaren die von der Gewaltenteilung gesetzten Grenzen überschreiten oder gar völlig ausser Kraft setzen wollen.
Doch bei jüngsten Zusammenstössen zwischen Regierungshandeln und rechtlichen Normen liegen die Dinge bei näherer Betrachtung nicht immer so klar, dass es in jedem Fall die Exekutive ist, die zur Ordnung zu rufen wäre.
Missachtete Gewaltenteilung in Italien?
Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni wollte in Albanien zwei Flüchtlingslager betreiben, in denen Männer aus sogenannt sicheren Herkunftsländern ihren Asylentscheid abwarten und, falls dieser ablehnend ausfiele, umgehend zurückgeschafft werden sollten. Dadurch hätten Personen, die keine Aussicht auf Asyl haben, von einer Flucht in Richtung Europa möglichst abgehalten und falls sie sich doch auf den Weg machten, am Betreten von EU-Territorium gehindert werden sollen.
Ein römisches Gericht hat diese Pläne der Meloni-Regierung kassiert, weil Bangladesh und Ägypten, die Herkunftsländer der ersten Insassen dieser neuen Lager, nach italienischem Recht keine offiziell sicheren Länder seien – was aber gemäss EU-Rechtsprechung erforderlich wäre. Meloni gibt nun aber nicht klein bei, sondern will die Liste der sicheren Länder überarbeiten und laufend aktualisieren, und zwar nicht durch ein Gericht, sondern per Regierungsentscheid.
Die Opposition wirft jetzt der Regierung mangelnden Respekt vor dem Prinzip der Gewaltenteilung vor. Es soll hier nicht der aktuelle innenpolitische Streit in Italien bewertet, sondern der Blick auf das komplizierte Gemenge von Asylrecht und Flüchtlingspolitik gelenkt werden, für das Italien nur ein Beispiel ist.
Asyl im Clinch zwischen Recht und Politik
Das Asylrecht basiert auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie auf der Europäischen Menschenrechtskonvention und ist in staatlichen Verfassungen und Gesetzgebungen kodifiziert. Es antwortet mit der Gewährung von individuellen Schutzrechten auf die historische Erfahrung des Flüchtlingselends des Zweiten Weltkriegs. Flüchtlingspolitik wiederum ist die Aufgabe von überstaatlichen Organisationen und Staaten, die jeweils aktuellen Fluchtbewegungen so zu managen, dass verfolgten Menschen die verbrieften Schutzrechte gewährleistet werden können.
Es wird in der Praxis nicht oft vorkommen, dass auf diesem Feld die materiellen Möglichkeiten und Verfahrenskapazitäten problemlos mit den geltend gemachten Ansprüchen Schritt halten. Der leidige Normalfall ist Knappheit und Überforderung. Flüchtlingspolitik kann unschöne Härten selten vermeiden.
Die Regierung Meloni versucht unter dem Eindruck solcher Knappheit und Überforderung, unbedrohte männliche Migranten von der Flucht nach Italien und in die EU abzuhalten, indem ihnen das Lager in Albanien und die baldige Abschiebung in Aussicht gestellt wird. War dieses – übrigens von der EU begrüsste – Experiment wirklich eine Missachtung der Gewaltenteilung? Oder nicht doch der Versuch, einen Teil des Migrationsproblems zu mildern und Kräfte für die wirklich Schutzbedürftigen freizubekommen?
Expansion des Rechts auf Kosten der Politik
Dass die rechtspopulistische italienische Regierung mit der Flüchtlingsfrage immer auch ihr propagandistisches Süppchen kocht, darf man selbstverständlich nicht übersehen. Doch im vorliegenden Fall geht es auch um den Machtanspruch der Justiz. Durch supranationale Akteure wie den Europäischen Gerichtshof (EuGH) oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) werden Grundrechte immer differenzierter und konkreter ausgestaltet und als direkt anzuwendende politische Richtlinien erlassen.
Ein Beispiel dafür lieferte der EGMR mit seinem Urteil zur Klage der Schweizer Klimaseniorinnen, das die Schweiz dazu verurteilt, politisch in Sachen Klimaschutz wesentlich mehr zu tun. Das für mehr Klimaschutz eintretende politische Lager hat dies begeistert gutgeheissen. Doch beachtet man die juristische Argumentation, so hat das Urteil bedenkliche Aspekte.
Der EGMR hat aus der Europäischen Menschenrechtskonvention einen individuell einklagbaren Anspruch auf Schutz vor Klimaveränderung abgeleitet und auf dieser Grundlage die Schweiz dazu verurteilt, ihre Klimapolitik zu verschärfen. Dabei wird dem staatlichen Handeln der kleinen Schweiz zugetraut, bei entsprechender klimapolitischer Entschlossenheit die Gesundheit der klagenden Seniorinnen merklich verbessern zu können.
Dieser Optimismus bezüglich der Fähigkeit staatlicher Politik, Grundrechte im globalen Massstab zu realisieren, scheint den EGMR bewogen zu haben, bei der Schweiz klimapolitisch zu intervenieren. Somit hat die Instanz des Rechts in die Sphäre der Politik eingegriffen – oder man könnte auch sagen: übergegriffen. Der EGMR tat es mit der Insinuation, die Politik – Parlament und Regierung der Schweiz – hätten mit lascher Klimapolitik das Grundrecht auf Gesundheit missachtet.
Systemische Konkurrenz zwischen Politik und Justiz
Das Strassburger Gericht trieb einigen argumentativen Aufwand, um seinen Übergriff auf das Feld der Politik zu rechtfertigen. Was dabei auf der Strecke blieb, ist ein Aspekt der Gewaltenteilung, der allzu selten Beachtung findet: Diese ruft eben nicht nur die Politik, sondern auch die Justiz zur Ordnung. Wie nötig auch die Beschränkung judikativer Macht ist, zeigt ein hypothetischer Fall: Was wäre, wenn frustrierte Wohnungssuchende beim EGMR ihr in der Europäischen Menschenrechtskonvention stipuliertes Recht auf Wohnung einfordern und den Staat verklagen würden, weil er nicht genug für den Bau erschwinglicher Unterkünfte unternehme? Man könnte auf das Urteil gespannt sein.
Zurück zum Casus Regierung Meloni versus italienische Justiz. Ein aktives Übergreifen des Gerichts wie im Fall Klimaseniorinnen liegt hier wohl eher nicht vor. Vielmehr zeigt sich da eine systemische Konkurrenz zwischen Politik und Justiz: Während die Regierung versuchen muss, eine gesellschaftlich akzeptierte Asylpolitik zu fahren, obliegt den Gerichten die Wahrung des Asylrechts. Weil es da Schnittmengen gibt, kommt es zu Konflikten. Diese immer gleich als Verletzung der Gewaltenteilung zu etikettieren, ist jedoch nicht angebracht.
Besser wäre, es würden sich alle Beteiligten die Sache anschauen, um die es geht, in diesem Fall also: Wie kann man den Zustrom von Menschen bremsen, die das Asylrecht faktisch missbrauchen, weil sie keinen rechtlich valablen Grund für ein Asylgesuch haben. Eine Lösung dieses Problems ist asylpolitisch und asylrechtlich gleichermassen dringlich.