In Zeiten grossen Einflusses von Konjunkturprognosen, Modellrechnungen, Big Data, Wirtschaftsanalysen oder Trendreports mag die Warnung überraschen, dass Gefahr im Anzug ist. Da mögen wichtige Repräsentanten wichtiger Konzerne oder Staaten von Meeting zu Meeting fliegen: Je mehr sie sich in der Business-Class oder am Board-Tisch über seitenlange Statistiken beugen, desto grösser ist das Risiko des grossartigen Irrtums. Risikoexperten, die zukünftige Bedrohungen durch seltene Ereignisse bis auf drei Stellen nach dem Komma herunterspielen (oder aufbauschen, je nach Auftraggeber der Analyse), sind eigentlich unbrauchbar. Nicht selten bevorzugen sie rationale Extrapolationen, um ihre Aussagen zu begründen. Dabei verwechseln sie komplexe mit nicht komplexen Systemen.
Komplexes ist fähig zu Antifragilität
Zur Erinnerung: Vom Menschen hergestellte Produkte (z.B. Computer, Staubsauger) mögen zwar immer komplizierter oder faszinierender sein – sie bleiben trotzdem nicht-komplex. Dagegen haben wir es bei komplexen Systemen (z.B. Organisches, Ökologie, Lebewesen) mit starken Wechselwirkungen zu tun. Es ist hier nicht immer im Voraus absehbar, welche Folgen unser Handeln haben wird. Oder anders: Während von Menschen konstruiertes Mechanisches Wartung oder Reparaturen benötigt, kann Organisches durchaus zur Selbstheilung oder gar zur Selbstverbesserung tendieren.
Der Physiker Robert Laughlin spricht in diesem Zusammenhang von Reduktionismus und von Emergenz (Selbstorganisation der Natur). Nassim Taleb, Wissenschaftler und Essayist, provoziert erneut (nach «Der Schwarze Schwan») mit seinen Bezeichnungen. Indem er Mechanischem Qualitäten wie Robustheit oder Fragilität zuordnet, findet er im Organischen die dritte, entscheidende Kraft der «Antifragilität». Statt Problemen oder Bedrohungen zu widerstehen (robust) oder daran zu zerbrechen (fragil), profitiert Antifragiles; es geht gestärkt aus der Herausforderung oder Gefährdung hervor.
Einmal mehr unternimmt Taleb einen Anleitungsanlauf. Jetzt geht es vor allem darum, zu verstehen, was wir in unserer Welt auch in Zukunft «nicht verstehen» können: Wir können nicht wissen, wie Unvorhergesehenes unsere Welt beeinflussen und verändern wird. Schon gar nicht, wenn wir die Vergangenheit als Modell für die Zukunft heranziehen. Diese wird chaotisch, überraschend, unberechenbar sein.
Taleb versucht unseren Blick auf die Welt zu verändern. Seine praktisch-philosophischen Antworten auf die aktuellen Herausforderungen sind spannend, witzig, oft übertrieben. Seine Überzeugung: Wir sollten Antifragiles suchen und pflegen, denn das wird besser und besser.
Wirtschaft und Biologie
Eigentlich funktioniert Wirtschaft wie Biologie. Hier bringt die Rivalität zwischen Suborganismen die Evolution voran. Dort sind es Individuen, Handwerker, KMU, Industriebetriebe, die reüssieren oder scheitern – und damit die Entwicklung antreiben. Die Robusten überleben, die Schwachen gehen unter. Die Stärksten aber (die Antifragilen), verbessern ihre Angebote nach jedem Misserfolg. Kleine Restaurants können alltägliche Beispiele sein.
Nun wird dieses «natürliche» System aber durch staatliche Rettungsaktionen durcheinandergebracht. Regierungen retten Pleitefirmen – jedoch nur die allergrössten – die «too big to fail» –, die den Staat unter Druck setzen können. Das ist genau das Gegenteil einer gesunden Risikopolitik. Damit wird Antifragilität von der gesunden Gesamtheit auf denjenigen übertragen, der nicht mehr fit ist. Fatalerweise wirkt sich dabei aus, dass ein solchermassen «gerettetes» Wirtschaftssystem die zukünftigen Generationen mit hohen Staatsschulden befrachtet.
Und natürlich gehört der Umgang mit Staatsdefiziten in die gleiche Kategorie. Ein Haushalt wäre an sich antifragil; im Moment, da wachsende Defizite praktischerweise finanziert werden durch die Notenpresse (EZB in Europa, US-Notenbank), wird das System in höchstem Masse fragil. Es wird offiziell Wirtschaftswachstum gefördert – bezahlt mit einer gigantischen Verschuldung. Erneut wird damit die nächste Generation «bedient». Alles, was mit Interventionismus einhergeht, hat schädliche Nebenwirkungen, die oft erst viel später erkannt werden, wenn die Verantwortlichen längst abgetreten sind.
Offensichtlich tendiert der Fragilist dazu, Belästigungen durch Dinge, die er nicht versteht, aus dem Weg zu gehen. Zu allem Überfluss scheint er noch überzeugt zu sein, dass das, was er nicht versteht, nicht existiert. Er überschätzt sein Fachwissen, und «aufgrund dieser Wahnvorstellung ist er ein naiver Rationalist» (Nassim Taleb). Er meint fälschlicherweise, dass für ihn die Gründe hinter den Dingen automatisch zugänglich wären.
Die Oberbegriffe «Fragil – Robust – Antifragil» klassifizieren sich also auf diese Weise: Das Fragile ist auf Störungsfreiheit angewiesen, das Antifragile wächst an der Unordnung, und für das Robuste spielt das eine wie das andere kaum eine Rolle.
Menschen sind keine Waschmaschinen
Mit «Touristifizierung» bezeichnet Taleb den Umstand, dass im modernen Leben Menschen wie Waschmaschinen behandelt werden. Man kann dabei nach einem detaillierten Handbuch vorgehen und darf mit schlichten mechanischen Reaktionen rechnen. Ungewissheit und Zufälligkeit werden systematisch entfernt, und man versucht, die Realität bis ins kleinste Detail vorhersehbar zu machen. All das im Namen von Komfort, Bequemlichkeit oder Effizienz.
Touristifizierung verhält sich zum wirklichen Leben wie ein Tourist zu einem Abenteurer oder Flaneur; sie besteht darin, Aktivitäten in das Äquivalent eines Drehbuchs zu verwandeln. Damit werden Systeme und Organismen, die mit Ungewissheit recht gut auskommen, kastriert. Die Schuldigen sind z.B. Erziehungssysteme, Planungswesen, mit Fördermitteln bediente Forschung, Fitnessgeräte – und moderne «Gefangenschaft». Damit ist gemeint, wie Menschen der Moderne ihre Freizeit verbringen: auf Kreuzfahrten, am Freitagabend in der Oper, an planmässigen Partys mit ihrem aufgesetzten Gelächter.
Resümee
Vielleicht lesen Sie ja «Antifragilität» von Nassim Taleb. Dann können Sie in 800 Seiten kritischen Denkens eintauchen und erst noch Spass haben daran. Wenn Ihnen 800 Seiten doch etwas viel scheint, hier meine subjektive Zusammenfassung.
Die Globalisierung hat zur Folge, dass sich (schädliche) Entwicklungen weltweit ausbreiten – «als wäre die ganze Welt ein einziger riesiger Raum mit engen Ausgängen geworden. Die Leute rennen alle zu denselben Türen, und die Schäden werden immer grösser und treten immer schneller ein». Alle Kinder lesen Harry Potter, und die Jugendlichen lassen sich bei Facebook registrieren. Erwachsene, wenn sie reicher werden, kaufen teure Weine und ein Haus im Süden und besuchen Venedig und Florenz.
Könnte solchen Sachzwängen ausgewichen werden? Ist das wünschenswert: Die isolierte Kleinfamilie mit drei Fernsehgeräten, wohnhaft in auf Autofahrer zugeschnittenen, zugebauten Vororten? Der tägliche Konsum einer destruktiven Gedanken- und Kulturdiktatur der etablierten Medien (wie: «The Voice of Switzerland»)? Die endlosen Warteschlaufen am Telefon, wo ich ausharren muss, bis durch einen technischen (?) Fehler der Anruf abgeklemmt wird? Die riesigen, fassadengrossen Fenster in Neubauwohnungen, die am Tag des Wohnungsbezugs mit hässlichen Stoffgebilden undurchsichtig gemacht werden?
Die alten goldenen Regeln, «Weniger ist mehr» und «Verhalte dich anderen gegenüber so, wie du möchtest, dass sie sich dir gegenüber verhalten», haben Bestand. Sie brauchen keine langen Erklärungen. Abschliessend frage ich Sie: Mögen Sie Variationen, Überraschendes? Gehen Sie schon mal persönliche Risiken ein? Dann willkommen in der Familie der Antifragilen!