Die beiden Nachbarstaaten haben immer in enger Verbindung gestanden, seitdem sie durch die Lostrennung Libanons von Syrien unter französischem Mandat 1921 voneinander getrennt wurden. Die letzte Episode dieses Zusammenlebens war die Präsenz syrischer Truppen in Libanon bis 2005, 14 Jahre lang, nachdem der libanesische Bürgerkrieg, der zuvor 15 Jahre lang getobt hatte, 1991 mit syrischer Militärhilfe zu Ende gegangen war.
Ein tief gespaltenes Land
Die gegenwärtige libanesische Politik ist bestimmt durch die Zweiteilung der politischen Kräfte in Anhänger und Verbündete von Hizbullah (libanesische offizielle Bezeichnung: "Allianz vom 8. März") und in Parteigänger und Verbündete der libanesischen Sunniten, die vom vorausgehenden Ministerpräsidenten, Saad Hariri, angeführt werden (offizielle Bezeichnung: "Allianz vom 14. März"). Die christlichen Gemeinschaften sind in beiden Allianzen vertreten.
Hizbullah mit Asad und mit Iran
Zur Zeit bildet die "Allianz vom 8. März" die Regierung. Sie unterstützt das Asad Regime in Syrien. Hizbullah ist die Hauptkomponente dieser "Allianz", und Hizbullah ist angewiesen auf Waffenhilfe aus Iran und auf den Durchgang von Geldern und Waffen über Syrien nach Libanon.
Die politischen Gegner von Hizbullah bilden die Gegenallianz, deren Hauptbestandteil aus Sunniten besteht. Sie unterhalten enge Beziehungen zu Saudi Arabien. Saudi Arabien ruft heute offen nach dem Sturz des Asad Regimes und wirkt mehr oder minder geheim auf ihn hin.
Diese Konstellation bedeutet, dass in Libanon die pro-schiitische Achse von Iran, Syrien und Hizbullah und die anti-schiitische Achse von Saudi Arabien, den arabischen Sunniten, besonders den salafistischen und den islamistischen unter ihnen, am Rande den USA und dahinter als Freund der USA und als Feind Irans indirekt auch Israel, aufeinander stossen.
Aktivisten und Flüchtlinge aus Syrien
In Libanon gibt es viele Sympathisanten und Aktivisten der syrischen Protestbewegung sowie Flüchtlinge aus Syrien, die über die Grenze geflohen sind, um der Verfolgung durch die Regimetruppen von Damaskus zu entkommen. Sie werden unterstützt von den einheimischen Sunniten.
In Libanon gibt es aber auch eine syrische Botschaft, die bemüht ist, die Thesen des Asad Regimes zu verteidigen, und sich dabei auf das Wohlwollen der schiitischen Macht von Hizbullah und der gegenwärtigen Regierung unter Ministerpräsident Mikati stützen kann. Das Asad Regime unterhält Agenten in Libanon, von denen einige gegen die syrischen Oppositionsaktivisten und Flüchtlinge eingesetzt werden.
Hautnah nebeneinander in Tripolis
In Tripolis, der zweitgrössten Stadt Libanons, spitzen sich diese Gegensätze weiter zu, weil es dort Stadtquartiere gibt, die von Alawiten bewohnt werden. Sie sind meist Immigranten aus Syrien, die in der libanesischen Hafenstadt Arbeit fanden. Manche sind schon seit Generationen in Libanon. Sie halten zum weitgehend von Alawiten beherrschten und mit ihnen identifizierten Asad Regime. Sie stehen damit auf der Seite von Hizbullah und der gegenwärtigen libanesischen Regierung.
Ihnen gegenüber, mancherorts nur durch eine Strasse getrennt, liegen sunnitische Volksquartiere. Die Sunniten bilden die weitaus grösste Gemeinschaft in Tripolis. Unter ihnen gibt es seit Jahrzehnten islamistische und salafitische Gottesgelehrte, die eine führende Rolle spielen. Manche davon sind sehr bereit, eine politische Rolle zu übernehmen, falls sie dadurch Gelegenheit erhalten, sich als Volksführer zu profilieren. Sie werden dann Wortführer der - finanziell gut ausgestatteten - saudisch-sunnitischen proamerikanischen sowie - indirekt - der israelischen Achse. Dies ist die Achse, zu welcher auch die gegenwärtige libanesische Opposition unter Saad Hariri gehört.
Zuerst Grenzgefechte
Es kam schon im Februar zu Zusammenstössen, teilweise mit tödlichem Ausgang, zwischen den syrischen Truppen und Flüchtlingen an der libanesischen Grenze. Dabei kam es vor, dass die syrischen Truppen über die Grenze hinweg auf ihre Feinde schossen oder diese sogar bis auf libanesisches Territorium verfolgten. Bei einer solchen Gelegenheit wurde ein zur schiitischen Gemeinschaft Libanons gehöriger Pressephotograph namens Ali Shaaban von syrischen Soldaten erschossen.
Umgekehrt gibt es einen Waffenschmuggel und gelegentlich wohl auch Bewegungen von bewaffneten Kämpfern aus Libanon nach Syrien, natürlich zu Gunsten der syrischen Opposition.
Armeeauftrag zur Sicherung der Grenzen
Die libanesische Armee hat den Auftrag, dies zu verhindern, damit das Land nicht in den syrischen Bürgerkrieg hineingezogen wird und wohl auch, weil die Regierung, im Gegensatz zur Opposition, mit dem Asad-Regime sympathisiert oder jedenfalls nicht mit ihm brechen will.
Doch die Sunniten von Tripolis, besonders die salafistisch und islamistisch ausgerichteten unter ihnen, stehen leidenschaftlich auf Seiten der syrischen Opposition und tun auf eigene Faust, was sie können, um ihr zu helfen. Sie sorgen auch für die in Lagern untergebrachten syrischen Flüchtlinge, von denen manche verwundet sind. Einige Geistliche ihrer Richtung predigen heftig gegen das "alawitische" Regime von Damaskus.
Erste Kämpfe in Tripolis
Einer von ihnen, Scheich Shadi al-Mawlawi, wurde am 14. Mai von der staatlichen Sicherheitsorganisation gefangen genommen und wegen »Beihilfe zu terroristischen Umtrieben" angeklagt. Seine Parteigänger sagen, er habe nur den syrischen Flüchtlingen geholfen, doch kann man nicht ausschliessen, dass er auch am Schmuggel zu Gunsten der Feinde Asads beteiligt war. Seine Verhaftung führte zu Unruhen in den Volksquartieren von Tripolis. Seine Anhänger gingen auf die Barrikaden, ihre Gegner, die Alawiten von Tripolis, griffen auch zu den Waffen. Es gab mehrere Tage lang Schiessereien.
Die Armee brachte Panzerwagen, um auf der Grenze zwischen den sunnitischen und den alawitischen Quartieren zu patrouillieren. Man zählte mindestens 5 Tote und etwa 20 Verletzte. Der Scheich ist inzwischen auf Kaution wieder frei gekommen.
Übergreifen auf Beirut
Doch eine Woche später, am 21. Mai, wurden zwei andere sunnitische Scheichs, die zu den Gefolgsleuten Saad Hariris gehörten, an einer Armeesperre in Nordlibanon erschossen. Ihre Anhänger in Beirut gingen auf die Strasse. Sie stiessen im südlichen Teil der Stadt, im Quartier Tariq Jadide, mit bewaffneten Schiiten zusammen, die zum Umkreis von Hizbullah gehörten. Es gab 2 Tote und etwa 18 Verwundete.
Alle Seiten riefen zur Ruhe auf: die Regierung, die Führung von Hizbullah, die Führung der sunnitischen Opposition, und die Lage konnte wieder beruhigt werden. Die Libanesen erinnerten sich daran, dass im Jahre 2008 die Hizbullah Milizen mit sunnitischen Aktivisten und mit der Armee in Beirut zusammengestossen waren und dass sie sich als die stärkeren erwiesen hatten.
Geiselnahme von schiitischen Pilgern
Eine weitere Bewährungsprobe für Libanon brach an, als am 23. Mai bekannt wurde, dass 11 (nach anderen Quellen 13) schiitsche Pilger libanesischer Nationalität, die von einer Pilgerfahrt aus dem Iraq, via Türkei nach Libanon heimkehren wollten, an der türkisch-syrischen Grenze entführt worden waren. Den Berichten nach zwangen Bewaffnete bei der syrischen Ortschaft Aazaz, nah an der Grenze, die Männer den Bus zu verlassen. Sie erlaubten den Frauen, ihren Weg nach Aleppo fortzusetzen, und diese wurden später per Flugzeug nach Beirut gebracht. Die Fauen erzählten, ihre Männer seien von den Bewaffneten an den Händen gefesselt und erschossen worden. Es hiess weiter, die Bewaffneten forderten die Freilassung von gefangenen Waffengefährten, die in Aleppo festgehalten würden. Die Freie Syrische Armee dementierte aus ihrem Hauptquartier in der Türkei, dass ihre Truppen die Untat begangen hätten. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich um syrische Bewaffnete handelte, die auf eigene Faust handelten.
Die Freie Syrische Armee ist nicht in der Lage, alle Kämpfer zu kontrollieren, die in Syrien gegen das Regime unter Waffen stehen. Nach Berichten der syrischen Oppositionsaktivisten war der Flecken Aazaz unter schweren Beschuss durch die syrische Artillerie gekommen.
Demonstrationen in Beirut
In Beirut gingen Schiiten auf die Strasse, um gegen die Entführung ihrer Verwandten und Religionsgenossen zu protestieren. Sie schnitten den Verkehr auf mehreren Strassen ab. Erneut riefen alle Führer der verfeindeten Gruppen zur Ruhe auf. Die Regierung versicherte, sie werde nicht ruhen, bis die libanesischen Geiseln befreit seien. Nasrullah, der oberste Chef von Hizbullah, hielt eine Fernsehansprache, in der er auch zur Ruhe aufrief. Auch Hariri erklärte, die Geiselnahme sein ein Verbrechen, das er nicht billige. Viel hängt nun davon ab, ob die Geiseln wirklich frei kommen.
Gefahr eines neuen Bürgerkriegs
Libanon hat in den jüngsten Jahren mehrfach Unruhen durchgemacht, durch die das Land beinahe in den Bürgerkrieg zurückgefallen wäre, der von 1975 bis 1991 gedauert und einen hohen Blutzoll gefordert hatte. Doch das wollen alle Libanesen vermeiden.
Bisher ist es ihnen wiederholt gelungen, den Frieden wiederherzustellen, nachdem sie schon am Rand eines neuen Krieges gestanden waren. Nun aber kommt zu den innerlibanesischen Spannungen der Krieg im Nachbarland Syrien zwischen den Alawiten Syriens und ihren sunnitischen Gegnern dazu, und diesen überlagert der "arabische Kalte Krieg" zwischen Sunniten und Schiiten, den die Saudis vorantreiben, weil sie Iran und die arabischen Schiiten fürchten.
Bindungen an die Parteien der Aussenwelt
Die eine - militärisch stärkere - innerlibanesische Front von Hizbullah ist auf allen drei Ebenen, der libanesichen, der syrischen und der schiitischen, existenziell in diese Gegensätze eingebunden. Das gilt auch für die sunnitische Front auf der Gegenseite. Dies treibt die innerlibanesischen Spannungen weiter auf die Spitze. Alle vergangenen Bürgerkriege in Libanon sind immer auch gleichzeitig Stellvertreterkriege für weiter gespannte Interessen gewesen.
Die einzige Gegenwehr für den libanesischen Staat liegt in dem Umstand, dass die Libanesen sich alle an den vergangenen Bürgerkrieg erinnern und dass sie weiterhin alles versuchen werden, um einem erneuten derartigen Ausbruch entgegenzuwirken.