Das Lampedusa-Drama hat viele Facetten. Sie sind in den Medien ausführlich diskutiert worden, auch im Journal21. Die Diskussionen zeigen uns ein zerreissendes Dilemma. Einerseits: der Schock über das Ausmass dieses Dramas. Die Empörung und das Mitleid mit den Opfern und ihren Angehörigen. Andererseits: das unterdrückte Einverständnis mit der „Festung Europa“, mit ihrer auch von der Schweiz mitgetragenen EU-Grenzkontroll-Agentur Frontex, die in zehn Jahren 40 000 Flüchtlinge gerettet haben will, sie aber nach Afrika zurückschickt.
Klagen und Widersprüche
Und die Scheinheiligkeit der Bestürzung über dieses Drama weit unten im Mittelmeer. Millionen von Nordeuropäern würden Flüchtlinge, wenn sie es wagen sollten zu uns zu kommen, nicht als Nachbarn und nicht einmal in ihrem Quartier dulden. Die ebenso scheinheilige, uns von unserer Mitverantwortung ablenkende Empörung über die Schlepper, die nur tun, was wir in unserer Marktwirtschaft alle tun: Bedürfnisse gegen Geld befriedigen, die Flüchtlinge über die Grenzen lotsen.
Richtig ist der Ruf nach einer gesamteuropäischen oder jedenfalls EU-gemeinsamen Flüchtlingspolitik, und die Klage, dass die europäischen Länder dazu zu nationalistisch seien. Aber nie wird notiert, dass wir uns alle vehement dagegen wehren, weitere Kompetenzen an europäische Instanzen abzutreten.
Europa ist voll - und Australien, Amerika?
Hinter dem allem steht die quälende, aus politischer Korrektheit kaum auszusprechende Einsicht, dass wir Europa nicht allen Flüchtlingen dieser Welt öffnen können. Auch der Welle aus Afrika nicht. Dass wir uns mit unmenschlicher Strenge an den Grenzen vor einem ungebremsten Zustrom schützen müssen. Nach Lampedusa wird das nur verschämt hie und da angedeutet, aber es ist die brutale Realität. Europa ist voll. Übervölkert. Unser ökologischer Fussabdruck ist einer der höchsten der Welt, weit über dem, was unser Kontinent bewältigen kann, wenn die Menschheit überleben soll.
Dabei ist Europa immer noch offener als zum Beispiel Australien, welches Flüchtlinge aus Asien viel schärfer fernhält: Heidi Gmür schreibt am 21.Oktober in der NZZ aus Sydney: „Regelmässig sinken Boote mit Migranten und Migrantinnen aus Ländern wie Afghanistan, Pakistan oder Sri Lanka, die in Indonesien seeuntüchtige Fischkutter bestiegen haben, um australische Gewässer zu erreichen und hier Asyl zu beantragen. Den Todesopfern wird in der öffentlichen Debatte indessen kaum je Platz eingeräumt.“ Auch die USA haben noch viel mehr Aufnahmefähigkeit und schliessen ihre Grenzen.
Entwicklungshilfe: Ja, aber...
Das ist kein Plädoyer, um uns Europäer von Verantwortung freizusprechen. Aber ein Plädoyer, mit den demokratischen und hochentwickelten Partnerländern der Welt eine Diskussion über diese Flüchtlingsströme, ihre Ursachen und deren Bewältigung zu beginnen. Keine Illusionen: Die Einebnung des wirtschaftlichen Gefälles zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern, das diesen Sog nach Europa auslöst, wird Jahrzehnte dauern. Und Entwicklungshilfe bisheriger Manier hilft wenig. Die meisten Potentaten Afrikas stecken sie in ihre eigenen Taschen. Daher die Forderung, die Hilfe an Bedingungen zu gerechter Verteilung in ihren Ländern zu knüpfen. Aber das wäre eine Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten, welche an den europäischen Kolonialismus erinnert.
Diese Diskussion darf nicht ausschliesslich dem Gefühl menschenrechtlichen und humanitären Mitleids überlassen werden. Ja, in vielen afrikanischen Ländern treiben Armut, Rassismus gegen Minderheiten und korrupte Diktatoren, welche die westliche Entwicklungshilfe in ihre Taschen stecken, unzählige Menschen zur Flucht übers Mittelmeer. Daran ist auch der europäische Kolonialismus des 19.Jahrhundert schuld. Aber dieses historische Schuldbekenntnis hilft heute nichts. Die Kolonisatoren haben die Afrikaner vor 50 Jahren in die Unabhängigkeit entlassen. Heute liegt die Verantwortung bei ihnen, ihren Politikern, ihren Bürgern, ihren Gesellschaften. Ihre Potentaten dürfen nicht darauf rechnen, dass Europa alle jene absorbiert, die ihre Ungerechtigkeiten fliehen.
Der Skandal
Kaum oder gar nicht zur Rede gekommen sind in der Lampedusa-Diskussion zwei weitere Facetten, ein Skandal und ein blinder Fleck.
„Lampedusa“ ist nur die schockierende Chiffre für ein Phänomen, welches weit über Lampedusa hinausreicht. „Lampedusa“ ist ein Ausschnitt aus einem viel grösseren Drama. 1000 Kilometer weiter westlich, wo sich Europa und Afrika wieder nahe begegnen, paddeln tausende von Afrikanern die 14 Kilometer von Marokko nach Gibralter in Schlauchbooten, weil die spanische Küstenwache mit ihren Infrarot-Kameras alle grösseren Kähne schon auf dem Meer entdeckt und nach Marokko zurückdirigiert.
1000 Kilomter weiter östlich betreten tägllich 100 syrische Flüchtlinge Bulgarien und Griechenland, die zwei einzigen an den europäischen Zipfel der Türkei grenzenden EU-Länder, welche sie auf dem Landweg erreichen können. Beunruhigende Folgen für die Politik in diesen Südländern und in ganz Europa: Rechtsextreme, rassistische, ausländer-, migranten- und europafeindliche Bewegungen florieren. Griechische Rechtsextremisten schlagen Marktstände von Immigranten zusammen. Eine faschistoide Partei wird dort vor Gericht gezogen. Nationalistische, fremden-, demokratie-, politik-, EU- und europafeindliche Parteien gewinnen überall in Europa Zuwachs und Wahlen, auch in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und in der Schweiz..
Die Nord-Länder verschliessen die Ohren
Dieser Rechtsextremismus ist ein Blitzableiter für eine zunehmende Unzufriedenheit mit Europa. Die wachsende Zahl nichteuropäischer Zuwanderer, in der Schweiz vor allem die europäischen aber fremdartigen Kosovaren, ist nicht ihr einziger Grund, aber im europäischen Süden der stärkste. Spanien, Malta, Italien, Griechenland und jetzt auch noch Bulgarien werden von Flüchtlingen aus Afrika und Arabien überschwemmt. Doch die anderen EU-Länder lassen sie im Stich, lassen diese von Schulden, Budgetkrisen und Austerity geplagten Süd-Länder mit diesem Ansturm ohne die mindeste Hilfe selber fertigwerden.
Lange vor der Euro-Krise, schon seit Jahren haben sie die nördlichen Länder der EU um Hilfe angefleht. Die Nordländer verschliessen die Ohren. Keine Reaktion. Die nicht ans Mittelmeer grenzenden Länder, Schweiz inklusive, verstecken sich hinter einem Abkommen namens „Dublin“, das ihnen erlaubt, den Süd-Ländern nicht helfen zu müssen. Die heute in der EU gültigen, auch in der Schweiz nach einem Volks-Ja zur Assoziierung 2008 in Kraft getretenen Dublin-Regeln schieben die ganze Last der ankommenden Flüchtlingsströme auf die Mittelmeerländer ab.
Gemäss „Dublin“ müssen Asylgesuche von dem Staat behandelt werden, wo der Flüchtling zuerst eingereist ist, Nord-Länder können jeden Flüchtling, der zu ihnen kommt, in sein südliches Anlunftsland zurückschicken. In der Dublin-Verordnung der EU steht in bürokratischer Sprache die schreckliche Scheinheiligkeit: „Die Kriterien zur Bestimmung der Zuständigkeit folgen im Wesentlichen dem Grundgedanken, dass der Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein soll, der die Einreise veranlasst oder nicht verhindert hat.“
Festung Nord-Europa – wir helfen euch nicht
Nicht verhindert hat! Die Süd-Länder Europas, wo 99 Prozent der Flüchtlinge übers Mittelmeer ankommen, werden vor die Wahl gestellt, sie entweder mit eisernen Grenzen fernzuhalten und zurüclzuschicken, um die Festung Europa (Mittel- und Nordeuropa inklusive die Schweiz) vor ihnen sauber zu halten, oder sich ohne Hilfe aus dem Norden selber um sie zu kümmern. Und dann prangern ihre Medien entrüstet die menschenunwürdigen Zustände in den Lagern der Flüchtlinge an, mit welchen wir sie überladen.
Das ist ein Skandal. Fünfzig Jahre lang baute die EU alle ihre Politiken in Solidarität für alle ihre Länder auf: den Binnenmarkt, die Agrarpolitik, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, den Millionen-Finanzzustupf für die ärmeren Regionen. Gegenüber Flüchtlingen und Einwanderern aus fremden Ländern, einem europaweiten Phänomen, ist diese Solidarität plötzlich verschwunden. Ja, die Nordländer helfen den schuldengeplagten südlichen Partnern mit Milliarden, und das ist ja nicht wenig, fordert viel Überwindung und Mut zur Unpopularität. Aber ihr tiefstes Motiv ist das Eigeninteresse, den Euro vor dem auch sie selber treffenden Zusammenbruch zu retten. Das 50 Jahre lang selbstverständliche Gefühl von Solidarität jedes EU-Lands mit jedem anderen, des undiskutierten Zusammengehörens in der EU für alle Schwierigkeiten ist gegenüber dem Flüchtlingsproblem verschwunden.
Das ist für ganz Europa und auch für uns Schweizer unheilschwanger. Wenn das Grundgefühl verschwindet, Europa gehöre zusammen und müsse für seine Probleme gemeinsame Lösungen finden, dann werden seine Staaten Lösungen nur noch nach ihren nationalen Interessen suchen. Dann beginnt ein von keinen gemeinsamen Regeln mehr gezähmtes Gezänk. Und dann wird es nicht mehr lange gehen, bis wieder der Nationalismus herrscht, der sie 3000 Jahre lang zu unaufhörlichn Kriegen gegeneinander geführt hat. Achtung!!!
Europa geht es ungeheuer gut!
Die naheliegendste Schlussfolgerung aus dem Lampedusa-Drama habe ich nirgends gesehen: Es geht uns in Europa gut! Ungeheuer gut! Hunderttausende riskieren den Tod, um zu uns zu kommen. Sie sind nicht naive Glückssucher, sie haben von den tödlichen Risiken gehört und kommen trotzdem. Sie wissen von den Schwierigkeiten bis zur Unmöglichkeit, in Europa Asyl zu bekommen, und versuchen es trotzdem. Intergouvernementale Organisationen wie Amnesty International schätzen die Zahl der seit 20 Jahren auf der Flucht umgekommenen Todesopfer auf 20000. Jedes Jahr tausend. Der Drang.nach Europa ist übewältigend, ungeheuer.
Und was denken die Europäer über Europa? Uns geht es schlecht und immer schlechter. Europa gibt uns nicht, was wir von ihm erwarten. Die EU und überhaupt alle übergreifenden Regeln sind eine Fehlkonstruktion, alle Kompetenzen müssen den Nationalstaaten zurückgeben werden. Dasselbe Gefühl auch in der Schweiz: Die EU kujoniert uns mit ihren Forderungen nach dem Nachvollzug ihrer Binnenmarktregeln. Parteien und Bewegungen setzen mit Volksinitiativen unsere Anbindung an den EU-Binnenmarkt aufs Spiel.
Was wir nicht merken
Wenn Hunderttausende unter Todesgefahr nach Europa flüchten, kann dieses Bild nicht stimmen. Uns geht es unwahrscheinlich gut. Schauen wir übers Mittelmeer in die ganze Welt hinaus. Nach Eritrea und Somalia, woher die vor Lampedusa gekenterten Flüchlinge kamen. Nach Kenya, Mali, dem Kongo, vielen kleinen afrikanischen Ländern von deren Stammeskriegen wir nichts wissen. Nach den arabischen Ländern, nach Syrien, Libyen, Ägypten, dem Irak. Nach Pakistan, Afghanistan, Indien, Kaschmir. Und in Lateinamerika Mexiko, Peru und Kolumbien, wo die Drogenmafia wütet und mordet: Überall Gewalt, Extremismus, Selbstmordanschläge, Tod und Krieg. Wir sind ein seltener Hafen von Frieden und Wohlstand. Und wir merken das nicht.
Wir verdanken diesen nach 3000 Kriegsjahren unwahrscheinlichen Zustand der Einigung Europas und ihrem Pionier, der Europäischen Union, der EU. Sie hat die einander alle dreissig Jahre blutig bekriegenden Stämme und Länder zu einem historisch einmaligen Frieden und Wohlstand geführt. An ihren Politiken kann viel Kritik geübt werden, am meisten an der unüberlegten Schaffung der Euro-Währungsunion. Aber dem sie tragenden Fundamentalglauben, europäische Politik müsse fern vom Nationalismus in gemeinsamer Arbeit an wohlstandsfördernden Projekten betrieben werden, verdankt Europa seine heutige Wohlfahrt und seinen historisch einmaligen Frieden.
Auch zu dieser Einsicht sollte uns das Drama von Lampedusa bringen.