Am letzten Mittwoch sorgte die in Polen herrschende PiS (Recht und Gerechtigkeit) wieder einmal für eine Überraschung. Im Sejm peitschte sie im Rekordtempo eine Gesetzesänderung zum Obersten Gerichtshof durch, bereits die siebte Novellierung. Schon am Freitag bestätigte dann der Senat das Gesetz.
Dass die PiS Gesetzesvorstösse im Hauruckverfahren durchsetzt, ist zwar nichts Neues. Dieses Mal betraf es aber keine umstrittene PiS-Reform, sondern die Rücknahme einer bereits erfolgten Reform. Das kommt sehr selten vor und erfolgt meist auf Druck von aussen.
Flucht nach vorne
Offenbar hatte Parteichef und Big Boss Jaroslaw Kaczynski aus taktischen Gründen entschieden, der Hauptforderung des Europäischen Gerichtshofes entgegenzukommen, die in Zwangspensionierung geschickten Richter wieder einzustellen.
Die PiS hatte diesen Sommer versucht, durch eine weitgehende Gesetzesänderung die Kontrolle über den Obersten Gerichtshof zu erlangen. Die Reform des SN, des Obersten Gerichtes, beinhaltete zwei zentrale Veränderungen. Die Altersgrenze wurde von bisher 70 auf 65 Jahre heruntergesetzt und das Gericht durch die Bildung zweier neuer Kammern aufgestockt, einer Disziplinarkammer und einer Kammer für aussergewöhnliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten.
Die EU-Kommission reichte Klage beim Europäischen Gerichtshof ein. Bereits Mitte Oktober erging ein erstes Urteil, die umstrittene „Zwangspensionierung“ von 22 Richtern müsse ausgesetzt werden. Wichtige PiS-Politiker kritisierten das Urteil, sagten aber gleichzeitig, man respektiere die Urteile des Gerichtshofes. Man müsse dazu allerdings das Gesetz nochmals ändern. Die meisten Oppositionspolitiker hingegen sahen dies als unnötig an, das Urteil sei eindeutig genug. Die Oppositionsparlamentarier stimmten denn auch gegen die Gesetzesänderung, die PiS-Parlamentarier hingegen meist dafür, eine auf den ersten Blick eher absurd anmutende Situation.
Der „Kluge“ gibt nach
Mit der Gesetzesänderung erhofft sich die PiS, dass die Kommission ihre Klage zurückzieht. Gleichzeitig gibt man den eigenen Anhängern ein Zückerchen, die Gesetzesbestimmungen selbst erlassen zu haben und andere wichtige Neuerungen, wie die zwei zusätzlichen Kammern, behalten zu können. Kaczynski und sein Premierminister Tadeusz Morawiecki sind damit einem höchstwahrscheinlich negativen Urteil mit hohen finanziellen Strafen zuvorgekommen. Schon vor einem Jahr hat man ein Urteil des Gerichtshofes gegen übermässigen Holzschlag im letzten Urwald Europas, der Bialowieza, sofort umgesetzt, um hohen Bussen zu entgehen.
Allerdings sind bisher nur 37 der 110 Richterstellen unter der Kontrolle der PiS ernannt worden. Eine Mehrheit zu stellen, ein wichtiges Ziel Kaczynskis, ist damit mindestens für einige Zeit unmöglich geworden. Aber diesen Preis zu bezahlen, dürfte Kaczynski nicht allzu schwer gefallen sein. Er kann sich nun mehr Goodwill aus Brüssel erhoffen – das Verfahren gegen Polen nach Artikel 7 läuft ja immer noch. Zudem kann er sich damit brüsten, man halte sich an die Regeln der EU und wolle keinesfalls auf totalen Kollisionskurs mit Brüssel gehen, bis hin zu einem eventuellen Polexit (analog zum Brexit), so ein Standardvorwurf vieler Oppositioneller.
Mit dem teilweisen Nachgeben dürfte die PiS auch bei der breiten Bevölkerung punkten, die nach den Umfragen zu rund 80 Prozent für die EU-Mitgliedschaft eintritt. Dabei geht es den pragmatischen Polen hauptsächlich um handfeste Interessen. In dieser Beziehung machen auch die meisten PiS-Anhänger und Politiker keine Ausnahme. Gerade auf die anstehenden Verhandlungen um das neue Budget der EU hin muss die PiS in Brüssel allzu negative Schlagzeilen vermeiden.
PiS vermehrt unter Druck
Dass die herrschenden Nationalkonservativen gerade jetzt der EU nachgaben, hängt auch mit der politischen Gesamtsituation zusammen. Der erhoffte Grosserfolg bei den Regional- und Kommunalwahlen ist ausgeblieben. Zwar etablierte sich die PiS im ersten Wahlgang vom 21. Oktober deutlich als stärkste Kraft. Sie gewann in den Wahlen zu den Wojewodschaftsparlamenten insgesamt 34 Prozent und errang in 6 von 16 Wojewodschaften eine absolute Mehrheit der Sitze.
Aber in den Wahlen in die Gemeinde- und Stadtparlamente schnitt sie deutlich schwächer ab, hier dominierten eindeutig lokale Wahlkomitees. Bei den Wahlen der Gemeindevorsteher und vor allem der Stadtpräsidenten war sie noch klarer unter den Erwartungen geblieben. Dieser Trend bestätigte sich auch im zweiten Wahlgang. So waren schliesslich unter den 107 gewählten Stadtpräsidenten nur vier von der PiS. Die KO (Bürgerkoalition), die stärkste Oppositionsgruppierung, stellte 22, vor allem in den grossen Städten, während 77 als unabhängige Kandidaten starteten.
Die PiS versuchte das eher magere Resultat aufzubessern, indem sie möglichen Koalitionspartnern attraktive Bedingungen anbot. Für grosses Aufsehen und einige Empörung sorgte das Beispiel der Wojewodschaft Oberschlesien, einer wichtigen Industrieregion. Hier errang die PiS nur eine hauchdünne Mehrheit, indem sie einen Parlamentarier der KO „umdrehte“. Er bekam dafür einen Posten als Vizepräsident des Parlamentes.
Finanzaffäre mit Weiterungspotential
Die Opposition prangerte den Fall als politische Korruption an. Eine wirklich grosse Korruptionsaffäre war vor knapp zwei Wochen von der „Gazeta Wyborcza“, der wichtigsten Oppositionszeitung, an die Öffentlichkeit gebracht worden. Der Vorsitzende der Finanzaufsicht hatte dem Eigentümer einer in Schwierigkeiten geratenen Bank eine kulante Behandlung angeboten. Als Gegenleistung verlangte er die Anstellung eines Anwaltes. Dieser sollte nach Angaben des Eigentümers die hübsche Summe von 40 Millionen Zloty (rund 10 Millionen Euro) bekommen. Der Bankeigentümer hatte die Unterredung auf Band aufgenommen und Strafanzeige eingereicht.
Die PiS versuchte die Affäre möglichst schnell und ohne allzu grosse Kollateralschäden abzuwickeln. Der Vorsitzende der Finanzaufsicht, ein Protégé des Nationalbankpräsidenten, wurde schon am nächsten Tag aus dem Verkehr gezogen. Allerdings wurde sein Büro erst nach seiner Rückkehr von einer Auslandreise untersucht. Die Opposition fordert nun die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission, was die PiS jedoch ablehnt. Man darf gespannt sein, was im Laufe der Ermittlungen noch ans Tageslicht kommt. Einige Beobachter sprechen bereits von einer der grössten Affären seit der Wende.
Die Polarisierung geht weiter
Am letzten Freitag reichte die grösste Oppositionspartei, die PO (Bürgerverständigung), einen Misstrauensantrag gegen die Regierung ein. Dieser ist zwar chancenlos, zeigt aber, dass die Opposition das Momentum nutzen möchte. Die Polarisierung der Politszene ist sehr gross und wird eher noch zunehmen.
Ein klares Anzeichen hierfür waren auch die Feierlichkeiten anlässlich der 100-jährigen Unabhängigkeit des modernen Polen vor 14 Tagen. Es gab keine gemeinsame zentrale Feier von PiS und Oppositionsparteien. Am Unabhängigkeitsmarsch in Warschau, der sonst seit Jahren allein von rechtsnationalistischen Gruppierungen organisiert wurde, waren Staatsvertreter und PiS-Anhänger federführend beteiligt. Es nahmen über 200’000 Personen daran teil, eine Rekordzahl. Die PiS verbuchte das als Erfolg. Allerdings gab es auch Kritik wegen einer zu wenig klaren Abgrenzung gegenüber rechtsnationalistischen Gruppierungen.
In Umfragen der letzten Woche führte die PiS weiterhin deutlich in der Wählergunst. Allerdings ist der Abstand zur PO etwas kleiner geworden, beträgt aber immer noch rund zehn Prozent. Die PiS stellt auch mit Präsident Andrzej Duda und Premierminister Tadeusz Morawiecki weiterhin die populärsten Politiker. Morawiecki dürfte bald mit dem Segen Kaczynskis eine Kabinettsumbildung vornehmen, um umstrittene Minister zu ersetzen. Und gelingt die angestrebte Entspannung mit der EU, wird die PiS ihre Position wohl konsolidieren können. Bis zu den nächsten Wahlen kann allerdings noch viel passieren. Im Frühling stehen die Wahlen ins Europaparlament an, im kommenden Herbst in die nationalen Parlamente.